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Weniger Druck auf Serbien wäre "Armutszeugnis für EU"

Von WZ-Korrespondent Christian Wehrschütz

Europaarchiv

Chefankläger des Den Haager UN-Tribunals pocht auf Kooperation der Balkanstaaten.


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"Wiener Zeitung": Zwei mutmaßliche Kriegsverbrecher, Ratko Mladic und Goran Hadzic, sind noch immer in Freiheit. Hadzic wird wegen Verbrechen in Kroatien gesucht und der Ex-General der bosnischen Serben wegen des Massakers in Srebrenica. Das Den Haager Kriegsverbrecher-Tribunal geht davon aus, dass beide in Serbien sind. Haben Sie konkrete Hinweise dafür?

Serge Brammertz: Wir gehen in der Tat seit Jahren davon aus, dass das der Fall ist. Ex-General Mladic zum Beispiel hat sich einige Jahre lang kaum versteckt; Anfang 2000 ist er dann von der Bildfläche verschwunden, aber er wurde noch immer regelmäßig gesehen. Wir wissen, dass 2006 zum letzten Mal die Gelegenheit zur Festnahme - vermutlich wissentlich - verpasst wurde. Insofern gehen wir davon aus, dass wenn man sich 13 Jahre lang erfolgreich in einer bestimmten Region versteckt hat, das dann mit 69 Jahren nicht mehr ändert. Auf jeden Fall sind wir uns ganz sicher, dass der Schlüssel zur Festnahme und zu den Informationen, die zur Festnahme führen können, in Serbien und Belgrad liegt.

Was können Sie über Mladics Helfershelfer sagen? Gehen Sie von einem großen oder kleinen Netzwerk aus?

Es ist schwierig, eine abschließende Antwort geben zu können; wir gehen schon davon aus, dass mit der Zeit die Zahl der Unterstützer geringer geworden ist, und glauben, dass ein Teil der politischen und operativen Elite sicherlich für eine Festnahme ist. Ob jetzt die Mehrheit oder die Gesamtheit des politischen und justiziellen Umfelds dafür sind, da habe ich manchmal meine Zweifel. Und laut den letzten Umfragen von vor einigen Wochen ist immer noch eine Mehrheit der Bevölkerung gegen die Festnahme von Ratko Mladic.

Wie zufrieden sind Sie mit der Kooperation Serbiens mit dem Haager Tribunal?

Wir unterscheiden zwischen zwei Aspekten der Zusammenarbeit. Die Priorität heute ist die Festnahme der zwei verbliebenen Flüchtigen, wo wir Kritik üben müssen. Was die andere Zusammenarbeit betrifft - Zugang zu Archiven, Zeugenschutz, Dokumente, die wir anfragen - sind wir durchaus mit der Zusammenarbeit zufrieden

In der EU gibt es starke Strömungen, Serbien im Dezember auch dann den Status eines Beitrittskandidaten zu gewähren, wenn Mladic noch nicht gefasst sein sollte. Damit soll eine konstruktivere Haltung gegenüber dem Kosovo honoriert werden. Wie stehen Sie dazu?

Das sind natürlich politische Entscheidungen, die in Brüssel und den Hauptstädten getroffen werden und nicht hier. Aber wenn es in den letzten Jahren zu zahlreichen Festnahmen gekommen ist, dann ist das zu einem sehr großen Teil darauf zurückzuführen, dass die internationale Gemeinschaft im Allgemeinen und die EU im Besonderen Druck ausgeübt hat, durch diese Verbindung zwischen EU-Erweiterung und vollständiger Zusammenarbeit mit Den Haag. Sollte es jetzt heißen, die Realpolitik in der Region und die EU-Erweiterung sind wichtiger als die Festnahme von Mladic und Hadzic, dann fände ich das persönlich ein Armutszeugnis für die EU.

Das Haager Tribunal soll 2014 seine Arbeit beenden. Wie sieht Plan B aus, wenn die Gesuchten in Freiheit bleiben?

Die einzige Lösung, die uns wirklich zufrieden stellen würde, wäre die Festnahme der beiden unmittelbar in den kommenden Monaten. Dann würden die Verfahren noch vor dem Gericht hier abgeurteilt, selbst wenn das über das Jahr 2014 hinausgehen würde. Für den Fall, dass die Festnahmen sehr spät erfolgen, hat der UNO-Sicherheitsrat einen sogenannten residuellen Mechanismus geschaffen. Das ist eine Nachfolgeorganisation für das Jugoslawien-Tribunal, das sich auf der einen Seite mit dem verbleibenden Zeugenschutz, vorzeitigen Entlassungen, Rechtshilfe befasst, das aber auch eine Gerichtskomponente haben wird, mit Richtern und Staatsanwälten

Wie beurteilen Sie die Verfahren gegen Kriegsverbrecher in der Region, in Serbien, Bosnien aber auch Kroatien?

Es ist natürlich ein langer Prozess, der nach dem Krieg gestartet und immer noch nicht abgeschlossen ist. Trotzdem ist die Situation heute viel besser als vor fünf oder zehn Jahren. Man hat aber auch in den letzten Monaten immer wieder gesehen, dass das Risiko besteht, dass eine Ermittlung politisiert wird. Das ist der Sache nicht dienlich.

Wird das Problem nicht an das Tribunal abgeschoben, aber Vergangenheitsbewältigung in der Region findet nicht statt?

Das ist sicherlich ein Problem, das ich auch sehe. Deshalb sind wir auch der Meinung, dass die Ausweitung der justiziellen Kapazitäten, das Schaffen der richtigen Rechtsgrundlagen in der Region so wichtig ist. Natürlich habe ich manchmal die Befürchtung, dass, wenn das Jugoslawien-Tribunal nicht mehr besteht, die lokalen Behörden Schwierigkeiten haben werden, sich mit ihren eigenen Verfahren durchzusetzen.

Wie viele Dokumente und Stunden an Videomaterial hat das Tribunal gesammelt? Was soll damit passieren?

Allein in der Anklagebehörde sprechen wir von sieben Millionen Dokumenten. Wir sind im Kontakt mit dem Büro der Archive der Vereinten Nationen. Doch gibt es ebenso Bestrebungen, das Material auch Informationszentren in der Region zur Verfügung zu stellen. Aber zunächst wird es noch für längere Zeit hier bleiben.

Serge Brammertz (49) ist seit 2008
Chefankläger des UNO-Kriegsverbrechertribunals für Ex-Jugoslawien in Den
Haag. Zuvor war der belgische Jurist von der UNO mit den Ermittlungen
zum Mord am libanesischen Ex-Premier Rafik Hariri beauftragt.