Die Erfahrung mit Denunzianten steckt uns in den Knochen. Doch in "Spinnern" können Mörder stecken.
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Die üblichen liberalen Beteuerungen taugen nicht zur Argumentation nach einem vielfachen Mord aus rassistischen Motiven, wie er sich nun im hessischen Hanau ereignete. Deshalb wird auch jetzt wieder über neue Möglichkeiten für die Exekutive geredet werden müssen, um solche Taten aus Hass und Verblendung (und allen anderen Motiven) möglichst zu verhindern. Ein Staat, der seine rechtliche Handhabe nicht auf Zweckmäßigkeit in dieser Hinsicht prüft, handelt an der Sicherheit der Bürger vorbei.
Aber wie die Geschichte des rechtsextremistischen Täters von Hanau (und anderen mit ähnlicher Psyche) zeigt, leben diese Menschen ein Leben im Widerstand gegen ein System, von dem sie sich permanent verfolgt und beobachtet fühlen. Und dies sogar dann, wenn Behörden keinen Schimmer von ihrer Existenz geschweige denn von ihren verqueren Verschwörungstheorien haben.
Die Radikalisierung erfolgt hier nicht als physischer Prozess im Austausch mit Gleichgesinnten, entsprechend gibt es auch keine Treffen, keine Versammlungen, keinen am hellen Tag erkennbaren Aktivismus. Solche Tätertypen radikalisieren sich im paranoiden Austausch mit sich selbst. Und unter Zuhilfenahme der unendlichen Weiten des Internets, wo jeder noch so kranke Gedanke auf gleichgesinnte Echoräume stößt. Ein solcher Entwicklungsprozess von Gedanken über Worte und Videos zum blutigen Terroranschlag lässt sich nach den Grundsätzen einer liberalen Gesellschaft nicht mit Gewissheit verhindern. Oder wir würden aufhören, eine solche Gesellschaft sein zu wollen.
Wenn also dem Staat Überwachungs- und Zugriffsrechte verwehrt bleiben sollen, ist es an der Gesellschaft, ihre Antennen auf diese Gefährdungen hin auszurichten. Das ist, richtig verstanden, leichter geschrieben als getan. Die Erfahrung von Nachbarn als Denunzianten steckt uns noch vom vergangenen Jahrhundert gehörig in den Knochen. Zu Recht. Ein Mindestmaß an Gleichgültigkeit gegenüber den Neigungen unserer Mitmenschen haben wir deshalb als einen Gewinn an persönlicher wie gesellschaftlicher Freiheit zu schätzen gelernt.
Hier gilt es, für unsere Zeit und ihre Bedrohungen eine neue Balance zu finden. Der Täter von Hanau lebte seinen paranoiden Widerstand bis Mittwochabend, als er mordete, im Verborgenen. Aber er suchte nach Austausch, im Netz zwar, aber doch mit echten Menschen. Manche hielten ihn einfach nur für einen Spinner. Wir sollten also unser Verständnis von "Spinnern" neu bestimmen. Und wachsamer werden, denn manchmal können sie sich als Mörder entpuppen.