Zum Hauptinhalt springen

Weniger Identität!

Von Isolde Charim

Gastkommentare

Was heißt Integration heute?


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 10 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Was ist das, wenn junge Leute ihr Leben hier aufgeben, um in den "Dschihad" zu ziehen? Was ist das, wenn Leute auf Facebook alle "Dschihadisten-Posts" liken? Wenn junge Kurden hier verfolgt werden und die nahöstliche Front quer durch Wiener Berufsschulen verläuft? Die allgemeine Ratlosigkeit vor dem Phänomen sagt: Die Integration hat versagt. Und dann folgt der Ruf nach der Integrationsmaschine Bildung. Das ist der Moment, wo man noch einmal fragen sollte: Was heißt Integration eigentlich?

Im 19. Jahrhundert gab es in den USA ein Ritual: Migranten wurden bei ihrer Ankunft durch eine Scheune geschleust, wo sie ihre Trachten ablegten und als Amerikaner gekleidet am anderen Ende herauskamen. Was für ein Bild! - Natürlich ist das ein Vorgang der Assimilation, also der vollständigen Anpassung, gewesen. Heute sprechen wir nicht mehr von Assimilation, sondern von Integration. Das ist zweifellos ein Fortschritt, aber meint meist nur einen graduellen Unterschied: Integration ist zwar nicht völlige Anpassung, aber der Weg durch die amerikanische Scheune scheint immer noch die Richtung anzugeben.

Diese Vorstellung beruht aber auf einem Missverständnis - auf dem Missverständnis, dass die Vielfalt, die Pluralisierung, eine Gesellschaft unverändert ließe. Die Vorstellung also, durch Integration, durch einen gewissen Grad an Anpassung, sei die bisherige Gesellschaft aufrechtzuerhalten. Aber es gibt keinen Weg zurück in eine homogene Gesellschaft. Auch nicht durch noch so viel Integration. Da hilft keine Scheune: Das Faktum der Pluralisierung lässt sich nicht rückgängig machen.

Gesellschaftliche Vielfalt ist keine Ansammlung von unterschiedlichen Kulturen und Religionen. Es ist nicht einfach eine Addition, wo etwas Neues zu einem Bestehenden hinzukommt - zu den Österreichern dann die Türken, die Jugoslawen oder eben die Moslems. Pluralisierung ist kein äußerliches Verhältnis. Ob man will oder nicht: Sie verändert alle, alte Einheimische und neue.

Man kann heute nicht mehr auf dieselbe Art Österreicher sein wie früher. So wie man heute auch nicht mehr auf dieselbe Art religiös sein kann wie früher - nämlich als unhinterfragte Selbstverständlichkeit. Jede Identität, jede Religion steht heute neben anderen. Das ist nicht einfach nur ein äußerliches Aufeinandertreffen. Selbst der überzeugteste Gläubige, selbst der glühendste Patriot weiß heute, dass er nur eine Option unter anderen ist. In einer pluralen Gesellschaft leben heißt: Die Vielfalt hält Einzug in jede Identität, in jede Religion. Ob man das nun will oder nicht.

Wir sind keine Gesellschaft von vereinzelten Individualisten, wie man oft hört, sondern eine Gesellschaft von zahlreichen kollektiven Identitäten. Wenn das Wort "Integration" irgendeinen Sinn haben soll, dann ist es dieser: Integration ist das Wissen um die Vielfalt, die sich in jeden von uns einschreibt. Übersetzt für den Einzelnen bedeutet Pluralität also: weniger Identität!

Sind die österreichischen "Dschihadisten" also nicht genug integriert? Nicht in dem Sinne, dass sie zu wenig Österreicher sind. Wenn etwas versagt hat, dann ist es das Verhältnis zu ihrer eigenen Identität, zu ihrer eigenen Religion: Statt einem pluralen Weniger haben sie ein fundamentalistisches Mehr an Identität.