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TCM-Mediziner Bayer über Vorteile von Kräutern. | Wirkstoffpool ermöglicht eine Individualisierung. | Einzelwirkstoffe oft unverträglicher. | Wien. Ob Tabletten, Granulat zum Auflösen, Tees oder Dekokte (gekochte Auszüge) - in der chinesischen Pharmakologie werden Kräuter auf verschiedenste Weisen verabreicht. Doch deren Einsatz ist immer wieder heftig umstritten. Oft ist von giftigen Inhaltsstoffen die Rede und von Nebenwirkungen, die durch das Herausfiltern von Einzelsubstanzen, wie in der Schulmedizin üblich, verhindert werden könnten.
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"Die Gefährlichkeit der Kräuter wird eindeutig übertrieben", betont Prof. Andreas Bayer, Rektor der TCM Privatuniversität in Wien. Da es keine Wirkung ohne Nebenwirkung gibt, können natürlich auch Kräuterpräparate unangenehme Reaktionen hervorrufen. Aber selbst bei der Verwendung moderat toxischer Substanzen treten diese nur selten auf. Zumeist sind sie vorhersehbar und mitunter gewollt - wie etwa vermehrtes Schwitzen oder vermehrter Harndrang.
"Die Chinesische Medizin ist in jedem Fall unendlich weniger Nebenwirkung behaftet als die Schulmedizin, weil sie über 2000 Jahre ausgereift ist", erklärt Bayer. So seien die immer wieder zitierten Zwischenfälle in Europa mit Radix Aristolochia (Pfeifenblumenwurzel, Mutong) nicht passiert, weil die chinesische Medizin so gefährlich, sondern "missbraucht worden ist".
Die Konzentration der Kräuter lag in einer einzigen Dosis eines Schlankheitsmittels über dem 100-fachen, "was wir in fünf Tagen auf fünf Einzeldosen aufgeteilt verabreichen. Wenn ich die 100-fache Menge an Aspirin nehme, bin ich ebenfalls tot".
Zwischen 20 und 80 Wirkstoffen pro Pflanze
Das Risiko schädlicher Nebenwirkungen ist auf jeden Fall minimiert, wenn die Therapie von einem in der TCM ausgebildeten Arzt angeordnet und begleitet wird. Von Vorteil und zusätzlichem Schutz ist der Wirkstoffpool - jede Pflanze enthält zwischen 20 und 80 Wirkstoffen -, deren Wirkung durch Pflanzenmischungen individuell angepasst wird. Heute kann man noch nicht zur Gänze erklären, welcher Inhaltsstoff genau was bewirkt. Doch die Erfahrungswerte der TCM basierend auf den Aufzeichnungen aus über 2000 Jahren sagen, welche Mischung welchen Effekt hat.
Die Schulmedizin hat es sich zur Aufgabe gemacht, herauszufiltern, welche Substanzen in Naturheilmitteln tatsächlich wirken. Bayer sieht dies als große Gefahr. "Denn wenn man beginnt, die Naturmedizin auf - dann hochkonzentrierte - Einzelwirkstoffe zu reduzieren, erzeuge ich erstens Nebenwirkungen und verliere zweitens die Komplexität und Individualisierbarkeit."
Es gibt bei jedem Naturprodukt größere Wirkstoffschwankungen als bei chemischen Produkten. Das hängt sowohl vom Jahrgang der Kräuter als auch von Erntegebiet, Lagerung und Zubereitung ab.
Qualitätsschwankungen nicht ausgeschlossen
So kommt es mitunter zu großen Schwankungsbreiten in den Dekokten: zwischen wirkt gut, wirkt überhaupt nicht oder schadet mir sogar. Auch in Pharmafirmen produzierte Kräutertabletten können in unterschiedlichen Chargen Wirkstoffschwankungen aufweisen. In China wählen die Spitäler und Universitäten jeweils die besten am Markt befindlichen Kräutermischungen aus - "das sind auch unsere Standards", erklärt Bayer.
Hierzulande bekommt man chinesische Arzneimittel mehrheitlich nur in Apotheken und nur über den Arzt verschrieben. Aber auch in vielen Chinaläden sind Kräuter zu erwerben. Davon rät der Mediziner allerdings ab, da zu viele Zwischenstufen - wie eben Ernte, Transport und Lagerung - die Qualität stark beeinflussen.
In der TCM unterscheidet man prinzipiell zwischen Tonika (kräftigenden Substanzen) und Kräutern mit regulativen oder kurativen Effekten, die bei schwerer Krankheit eingesetzt werden. Erstere werden - wie zum Beispiel die Färberwaidwurzel (Banlangen) - etwa bei grippalen Infekten verwendet und können praktisch selbst verordnet werden. Doch viele Kräuter können in zu hoher Dosierung auch schädigen. Da braucht es auf jeden Fall einen in der TCM ausgebildeten Arzt, der über Dosierung und Anwendung entscheidet, rät Bayer.
Wurzeln, Blätter, Samen und Früchte im Einsatz
Zum Einsatz kommen vorwiegend pflanzliche Stoffe wie Wurzeln, Rinden, Blätter, Blüten, Früchte oder Samen. Vereinzelt beinhalten die Mischungen auch Teile mineralischer oder tierischer Herkunft wie Muscheln. Die Substanzen aktivieren, reinigen und kräftigen den Zellstoffwechsel unterschiedlicher Organe und Gewebe im Körper. Die Mischungen ersetzen im Gegensatz zu Medikamenten keine Körperfunktionen sondern stimulieren die Eigenregulationsfähigkeit des Organismus. Durch die Mischung lässt sich die Wirkung sehr gut individualisieren. Oft tritt die Wirkung schon nach Stunden oder Tagen ein, die Nachhaltigkeit zeigt sich allerdings oft erst nach Wochen.
Ein Interview mit dem TCM-Mediziner und Rektor der TCM-Privatuniversität, Andreas Bayer, finden Sie am 28. Juni im "extra" .