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Wenn Buchstaben zum Streitfall werden

Von Hermann Schlösser

Politik

Am 1. Juli 1996 wurde von allen deutschsprachigen Ländern eine "zwischenstaatliche Erklärung zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung" unterzeichnet. Zwei Jahre später, am 1. August 1998, begannen die Schulen, nach Maßgabe der neuen Regeln zu unterrichten. Im Jahr darauf, am 1. August 1999, stellten die Nachrichtenagenturen sowie die meisten Zeitungen und Zeitschriften auf die neue Schreibung um. Jetzt, wiederum ein Jahr später, wird das neue Regelwerk von seinen alten Gegnern wieder heftig attackiert.


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Das Startsignal für die neue Angriffswelle gab die "Frankfurter Allgemeine Zeitung". In ihrer Ausgabe vom 27. Juli 2000 verkündete das Blatt auf der Titelseite: "Die 'Frankfurter Allgemeine Zeitung´ wird vom 1. August an zur alten Rechtschreibung zurückkehren. Sie hatte vor einem Jahr die von den Kultusministern beschlossene Neuregelung übernommen, weil sie die Einheitlichkeit der deutschen Schriftsprache nicht gefährden wollte. Nach einem Jahr Erfahrung zeichnet sich ab, dass diese Hoffnung trügt. Die neue Rechtschreibung rettet die Einheitlichkeit nicht, vielmehr zerstört sie sie." "Daher", so das Fazit des Blattes, "muss die Neuregelung zurückgenommen werden."

Boykottaufruf

Dieser Boykottaufruf des konservativen deutschen Blattes war es, der einer scheinbar abgeschlossenen Debatte erneut Auftrieb gab. Seither häufen sich die Zeitungsartikel und Presseerklärungen, in denen Verbände und Persönlichkeiten ihre Unzufriedenheit mit der neuen Rechtschreibung bekannt geben. So gab - ein Beispiel unter vielen - der "österreichische Verband für Sekretariat und Büromanagement" vorgestern bekannt, dass laut einer repräsentativen Umfrage 70 Prozent der Sekretärinnen mit der neuen Orthographie unzufrieden sind.

Die engagiertesten Verbündeten der F.A.Z. sind aber offensichtlich die Schriftsteller. So forderte Günter Grass, der in der Regel kein Freund der "Frankfurter Allgemeinen" ist, die Öffentlichkeit dazu auf, zur alten Schreibung zurückzukehren. Auch Marcel Reich-Ranicki, der in allen literarischen Fragen seit Jahren mit Grass nicht mehr einer Meinung war, stand in Sachen neue Rechtschreibung ganz auf derselben Seite. Er bezeichnete die Reform sogar als "ein großes Unheil" und "beinahe" als "nationale Katastrophe".

Auch in Österreich schlossen sich viele Schriftsteller und Schriftstellerinnen der Forderung des Nobelpreisträgers Grass an: Sowohl die "IG österreichischer Autorinnen und Autoren" plädierte für eine Rückkehr zur alten Schreibung, als auch eine Reihe von Einzelpersonen. Darunter finden sich so verschiedene Temperamente wie Elfriede Jelinek und Gertrud Fussenegger, die sich vermutlich in keiner anderen politischen und ästhetischen Frage zu einer gemeinsamen Haltung verstehen würden. Auch Dichter wie H.C. Artmann oder Friederike Mayröcker sprachen sich für die alten Regeln aus - obwohl sie beide immer schon vom unbestrittenen Recht des Autors auf eine ganz und gar eigenständige Orthographie Gebrauch gemacht haben. Aber offenbar ist es ihnen angenehmer, gegen altehrwürdige Regeln zu verstoßen als gegen neu eingeführte.

Allerdings äußerten auch Menschen, die nicht beruflich mit Sprache und Schrift umgehen, ihren Unmut. Wenn man einer Umfrage des deutschen dimap-Instituts glauben darf, so befürworten 60 Prozent der Deutschen eine Rücknahme der Rechtschreibreform. Ähnliches wurde für Österreich erhoben: Aus einer Umfrage des OGM-Instituts, die bereits im Juli - also vor der Initiative der F.A.Z. - durchgeführt wurde, geht hervor, dass 69 Prozent der österreichischen Bevölkerung die neue Rechtschreibung für eine "weniger gute Sache" halten. Lediglich sieben Prozent halten sie ausdrücklich für gut, 15 Prozent ist es "egal", ob sie alt oder neu schreiben, während 9 Prozent entweder keine Angabe gemacht, oder in dieser Frage kein Urteil haben.

Nur 2 Prozent schreiben neue Orthographie

Die Umfrage, die unter 501 repräsentativ ausgewählten Österreichern über 18 Jahren vorgenommen wurde, besagt aber noch mehr. So wurde erhoben, dass 63 Prozent der Befragten die neuen Regeln gar nicht verwenden, während 24 Prozent angeben, demnächst damit beginnen zu wollen. Elf Prozent gaben keine Auskunft zu dieser Frage, und nur zwei Prozent gaben sich bereits als Benutzer der neuen Orthographie zu erkennen. Das bedeutet, dass nicht einmal alle, die der neuen Rechtschreibung ein gutes Zeugnis ausstellen, sie auch tatsächlich verwenden.

Nun mag man die Relevanz von Umfragen aus vielerlei Gründen skeptisch beurteilen. Auch sollte man die Wichtigkeit schnell abgegebener Presseerklärungen nicht überschätzen - zumal sie ins vielberufene "Sommerloch" fallen, das schon manche erhitzt geführte Debatte verursacht hat. Doch lässt sich auch nach dieser Einschränkung nicht abstreiten, dass die neue Rechtschreibung nach wie vor auf Widerspruch, wenn nicht sogar auf Widerstand stößt.

Aber worum geht es?

Nun bewegen sich die Argumente der Gegner auf drei verschiedenen Ebenen, die nicht leicht auseinander zu halten sind. Zum einen werden all die kulturkonservativen Bedenken wieder belebt, die gegen die Bemühungen um eine Reform der Orthographie schon von Anfang an ins Feld geführt wurden. Die Reform, so wurde vor allem in der F.A.Z. mehrmals behauptet, zerstöre ein über die Jahrhunderte gewachsenes Schreibsystem durch willkürliche Eingriffe, sie vernichte willentlich die Vielfalt der sprachlichen Ausdrucksweisen und trage somit zur Verarmung des Deutschen bei.

In einer zweiten Argumentationslinie wird die politische Legitimation der Reformer in Zweifel gezogen. Die Kritiker beschreiben die Einführung der Rechtschreibreform meist als eine Art Komplott zwischen einer mehr oder weniger inkompetenten Kulturbürokratie und einer ideologisch entschlossenen Gruppe von Reformern, die sich zusammen getan hätten, um - siehe oben- die Bedeutungsvielfalt des Deutschen auf dem Weg der Orthographiereform zu reduzieren. Als Motiv für diese Bemühung wird den Reformern zuweilen sogar nachgesagt, sie seien Kommunisten. (Oder was meinte Theodor Ickler, einer der prominentesten Kritiker der Rechtschreibreform, anderes, als er am vergangenen Freitag in der F.A.Z. vermerkte, dass die demnächst erscheinende Ausgabe des Duden zwar die Namen Honecker und Thälmann anführe, nicht aber die Namen Kohl und Ludwig Erhard?)

Mit diesen Vorwürfen, deren kulturkämpferische Spitze nicht zu übersehen ist, geht freilich auch eine sachliche Kritik an der neuen Rechtschreibung einher. Zwar scheinen sich einige der bekannten Kritikpunkte erledigt zu haben: An der Doppel-s-Schreibung nach kurzen Vokalen ("dass") nehmen selbst die schärfsten Kritiker keinen Anstoß mehr, und die Schreibung nach dem Stammprinzip steht in der gegenwärtigen Kontroverse nicht zur Debatte. Die berühmte "Gämse", die in vergangenen Jahren gerne als Beispiel für den Unsinn der Reform herbei zitiert wurde, wird derzeit jedenfalls nicht bemüht. Selbst die einstmals so umstrittene drei-Konsonanten-Regel ("Missstand") steht nicht im Zentrum des Streites. Dort begegnet man einzig der "Getrennt- und Zusammenschreibung". Dies ist in der Tat ein äußerst schwieriger Bereich. Dass er auch in der alten Orthographie nicht zufriedenstellend geregelt war, geben selbst Kritiker der neuen Rechtschreibung zu. Denn warum man früher "maßhalten", aber "Schritt halten" buchstabieren musste, ist nicht ganz einfach zu begründen. Und Beispiele dieser Art lassen sich viele nennen.

Die neue Regelung rückte diesem Problem verhältnismäßig radikal zu Leibe, indem sie verfügte: "Die Getrenntschreibung ist der Normalfall, sie muss nicht ausdrücklich geregelt werden. Regeln sind nur für die Zusammenschreibung vorzusehen." (Vgl. Peter Gallmann/ Horst Sitta: "Die Neuregelung der deutschen Rechtschreibung, Duden-Taschenbücher 1996.)

Damit sind zahlreiche Probleme gelöst, aber doch auch einige neue geschaffen. Denn in einigen Fällen entsteht ein Potenzial für Missverständnisse, wie die Kritiker - nicht "an Hand", wie man nach der gerade zitierten Regelung annehmen könnte - sondern: anhand ausgewählter Beispiele darlegen. In der Tat wäre der Unterschied zwischen "Das Problem ist Ihnen wohl bekannt." und "Das Problem ist Ihnen wohlbekannt." bei konsequenter Anwendung der neuen Rechtschreibung nicht mehr darzustellen. Auf solche Probleme weisen die Kritiker zur Zeit unermüdlich hin, denn sie bilden die linguistische Substanz ihrer Vorbehalte, die freilich - siehe oben - auch noch aus anderen Quellen gespeist werden.

Die andere Seite

Allerdings: So kompakt und geschlossen, wie es die Fülle der Stellungnahmen suggeriert, ist die Ablehnungsfront nicht. Auch Verteidiger der Reform melden sich zu Wort, und wenn die Presseaussendungen ein halbwegs repräsentatives Bild abgeben, finden sie sich vor allem in den Reihen der Pädagogen und der Bildungspolitiker. So plädierten z.B. die meisten deutschen Lehrerverbände - von der eher linken Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) bis zum eher konservativen Philologenverband - für eine Weiterführung der Reform. Und in Österreich äußerten sich sowohl Werner Amon, der Bildungssprecher der ÖVP, als auch Othmar Spachinger, der Sprecher der österreichischen Schulbuchverleger, zu Gunsten der Reform.

Der Wiener Landesschulinspektor Karl Blüml, der zu den österreichischen Vertretern in der zwischenstaatlichen Rechtschreibkommission gehört, betonte, dass es "verantwortungslos" sei, wenn man jetzt von neuem eine Grundsatzdiskussion lostrete, zumal sich die neue Rechtschreibung im Unterricht im wesentlichen bewähre.

Argumente der Wissenschaft

Freilich gibt es nicht nur pädagogische, sondern auch sprachwissenschaftliche Argumente für die Reform. Von der "Wiener Zeitung" befragt, beurteilte Richard Schrodt, Sprachwissenschaftler an der Universität Wien und ebenfalls Mitglied der Rechtschreibkommission, die derzeitige Debatte äußerst kritisch. Sie bringe nur Argumente, die schon schon seit Jahren hin und her geschoben würden, und die leicht zu widerlegen seien. So sei die Meinung, die Orthographiereform greife in quasi naturwüchsige Strukturen ein, schlicht falsch. Auch die alte Rechtschreibung sei das Ergebnis einer staatlich herbeigeführten Reform gewesen, die im Jahr 1902 gegen eine Front von Feinden durchgesetzt worden sei. Schrodt meinte, hinter den scheinbar sprachwissenschaftlichen Einwänden stehe in der Regel der bildungsbürgerliche Vorbehalt gegen Vereinfachungen. In der Tat sei die demokratische Forderung nach einer unkomplizierten "Rechtschreibung für Alle" der Kern aller Reformbemühungen seit 1902 gewesen.

Dass dieses Ziel so verwerflich sein solle, konnte Schrodt nicht erkennen. Zumal er die Befürchtung nicht teilen kann, eine einfachere Rechtschreibung führe zwangsläufig zu einer Verflachung des sprachlichen Ausdrucks. Da die Rechtschreibung nur ein Element der Sprache sei, könne und müsse sie nicht alle sprachlichen Nuancen buchstabengenau abbilden. So gesehen, gibt es im Bereich des Sprachgebrauchs noch andere Probleme als die Orthographiereform und den Kampf dagegen.