Sprachbarrieren bei der Diagnose von Krankheiten sind ein Problem.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 11 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Wien. Wo tut es denn weh? Diese Frage stellen Ärzte weltweit millionenfach. Um mit der Antwort dann auch fachmännisch umgehen zu können, müssen Mediziner den soziokulturellen Kontext ihrer Patienten berücksichtigen, meint Medizinanthropologin Ruth Kutalek im Gespräch mit der "Wiener Zeitung".
"Wiener Zeitung": Ein Anliegen der Medizinanthropologie ist es das Verhalten eines Patienten im sozio-kulturellen Kontext zu verstehen. Wie funktioniert das konkret?
Ruth Kutalek: Eine Patientin sucht zum Beispiel die Ambulanz eines Krankenhauses auf und sagt dem diensthabenden Arzt, dass es "hier brenne" während sie auf ihr Herz zeigt. Der Arzt deutet die Darstellung der Symptomatik als Herzbeschwerden und ordnet die notwendigen Untersuchungen an. Dann bricht die Patientin aber plötzlich in Tränen aus. Eine zufällig anwesende multilinguale Medizinstudentin wird gebeten, im Gespräch zu vermitteln. Es stellt sich heraus, dass die Frau ausdrücken wollte, dass sie ein gebrochenes Herz habe und sehr darunter leide. Wir versuchen, Medizinstudierenden näher zu bringen, dass Symptome sozial und kulturell bedingt unterschiedlich ausgedrückt werden können. Es geht uns darum, den kranken Menschen in seiner Vielfalt zu verstehen.
Gibt es Missverständnisse im Umgang mit Patienten?
In manchen Kontexten ist es beispielsweise unüblich, dass Männer und Frauen sich zur Begrüßung die Hand geben. Diese Geste, die dazu gedacht ist, die Distanz zwischen Arzt und Patient zu verringern, kann bei manchen Menschen Befremden auslösen. Auch haben Menschen ein unterschiedliches Schamgefühl, was beim Entkleiden für eine ärztliche Untersuchung oder etwa beim Schreiben eines EKG berücksichtigt werden sollte. Hier sollte man darauf achten, wer im Raum anwesend ist und auch, dass die Untersuchung so stattfindet, dass man als Patient nicht plötzlich bei einer sich öffnenden Tür für alle entblößt sichtbar ist.
Brauche ich also einen Arzt aus meiner Community?
Es geht nicht nur darum, dass dieselbe Sprache gesprochen wird, sondern um das Verständnis für andere Krankheitsvorstellungen beim Patienten. Denn jede Gesellschaft hat verschiedene Zugänge zu Krankheit und zu Gesundheit. Der Arzt muss wissen, in welchem kulturellen Raum der Patient aufgewachsen ist, und dass es verschiedene Konzepte von Krankheit gibt.
Klingt einfach.
Ist aber sehr kompliziert, denn wir müssen aufpassen, nicht in Schubladen einzuteilen, das kann auch gefährlich sein.
Warum gefährlich?
In erster Linie besteht die Gefahr der Stereotypisierung. Patient X oder Y reagiert so und so, weil er aus diesem oder jenem Land kommt. In der Realität gibt es diese Homogenität nicht. Es spielt beispielsweise eine Rolle, ob jemand aus einem städtischen oder ländlichen Gebiet kommt. Auch Lebensalter und Bildung sind zu berücksichtigen. Abgesehen davon lebt jeder einzelne seinen kulturellen oder sozialen Hintergrund ganz individuell. Es gilt, das ärztliche Verhalten immer wieder zu reflektieren und darauf zu achten, eben nicht zu verallgemeinern.
Und was muss man dann genau wissen?
Man muss wissen, dass das Verständnis von Krankheit sehr variieren kann, etwa in Bezug auf chronische Erkrankungen. Bei einer Befragung haben wir gesehen, dass manche Patienten, deren Aufklärung aufgrund von sozialen oder sprachlichen Barrieren nicht optimal verlaufen ist, Diabetes nicht als chronische Erkrankung erkennen. Der Patient denkt das geht in zwei Monaten vorbei. Wichtig wäre hier, Patienten-Schulungen sprachlich und sozial an die Patienten angepasst anzubieten und auch deren konkreten Alltag zu berücksichtigen. Vorstellungen von Krankheit beeinflussen das Gesundheitsverhalten ganz wesentlich.
Manche Migrantengruppen suchen gerne einen Heiler aus ihrer Community auf. Sind diese hilfreicher als konventionelle Mediziner?
Ob sie jetzt helfen oder nicht, würden wir uns in der Medizinanthropologie nicht anmaßen zu beurteilen. Uns interessiert, warum Menschen zu anderen Heilkundigen gehen. Das gibt es ja nicht nur bei Migranten, sehr viele Patienten haben schon einmal Hilfe bei anderen heilkundlichen Traditionen gesucht. Offensichtlich gibt es einen Bedarf, den die westliche Medizin nicht abdeckt. Etwa in Bezug auf die Kommunikation. Ein Arzt hat pro Patient oft ja nur sehr wenig Zeit. Ein Heiler dagegen nimmt sich die Zeit. Obwohl jeder Arzt sich mehr Zeit mit den Patienten wünscht ist dies schwer umsetzbar.
Es gibt im Bereich Migration viele verschiedene Projekte, aber kaum etwas wird umgesetzt.
Es gibt und gab sehr viele und sehr gute Projekte in diesem Bereich. Aber dabei darf es nicht bleiben. Wir kennen die Probleme, jetzt ist es notwendig, diese strukturell anzugehen. Etwa wird schon seit Jahren diskutiert, im Gesundheitsbereich einen umfassenden Dolmetschdienst anzubieten, der niederschwellig und zeitlich gut verfügbar ist und bei dem verschiedene Sprachen angeboten werden. Zudem müssen Ärzte in ihrer Ausbildung auch gezielt im Bereich "diversity" geschult werden, also wie sie auf multiple soziale und kulturelle Anforderungen reagieren. Das wird im Medizincurriculum in Wien auch schon teilweise umgesetzt.
Ruth Kutalek forscht an der "Unit Ethnomedizin und International Health, Abteilung Allgemein- und Familienmedizin" an der Meduni Wien.