Ergänzung zum ersten Bildungsweg gibt es in Volkshochschulen. | Besonders wichtig ist die soziale Kompetenz der Lehrenden. | Wien. Wer keinen Hauptschulabschluss und keine ausreichenden Deutschkenntnisse hat, steht ohne Perspektiven da. Das Los trifft auch so manche Zuwandererkinder, die erst im Alter von zehn oder mehr Jahren nach Österreich gekommen sind. "Unser Schulsystem ist auf Schüler ausgerichtet, die ab dem sechsten Lebensjahr bei uns in die Schule gehen, nicht auf fremdsprachige Kinder, die erst später kommen", meint Michaela Judy, Leiterin der Volkshochschule (VHS) Ottakring.
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Ob Kinder mit geringen Deutschkenntnissen den ersten Bildungsweg schaffen, hängt von mehreren Umständen ab. "Wichtig ist sicher, ob zu Hause eine Wertschätzung für den Unterricht herrscht und wie der Lehrer mit fremdsprachigen Schülern umgeht. Ob er sagt: Da kann jemand etwas, das wir nicht können", berichtet Judy. "Es ist auch ein Unterschied, ob ein Lehrer ein einziges Kind ohne Deutsch-Kenntnisse in der Schulklasse hat oder zehn Kinder. Letzteres übersteigt seine Möglichkeiten."
Judy kennt Schüler mit diesen Problemen zuhauf. 170 Jugendliche besuchen jährlich ihre VHS. Dort bietet das Projekt "Jubiz" speziell jugendlichen Migranten einen zweiten Bildungsweg. "Unser Angebot haben wir in den letzten 18 Jahren entwickelt", erzählt Judy. Kurse zur Alphabetisierung bei massiven Lese- und Schreibschwächen, Basisbildung und die Möglichkeit, den Hauptschulabschluss nachzuholen, werden mit Unterstützung der Stadt Wien und des Unterrichtsministeriums angeboten. Zwischen 15 und 25 Jahre alt sind die Kursteilnehmer.
"Etwa 50 Prozent unserer Jugendlichen sind erst sehr kurz in Österreich", betont Gudrun Konrad, die an der VHS Ottakring unterrichtet. Die andere Hälfte hatte daheim oft unter sozialen Problemen oder Scheidungen zu leiden oder kämpfte mit Drogensucht. "Ale Erstes entstanden Kurse für den Hauptschulabschluss", erzählt Judy. Als man sah, dass einige zu wenig Deutsch können, begann man mit Deutschkursen. Das Angebot wird oft aufbauend genützt: Zwei Drittel machen nach Besuch der Basisbildung den Hauptschulabschluss. Rund 80 Prozent schließen den einjährigen Kurs erfolgreich ab.
"Einige unserer Schüler holen später noch die Matura nach oder studieren. Ich kenne jemanden, der die TU absolviert hat", berichtet Konrad. "Der Erfolg bei uns hängt vor allem mit der Kompetenz der Lehrer und der Unterstützung durch Sozialarbeiter zusammen." Die Lehrer haben den international zertifizierten Ausbildungslehrgang "Deutsch als Fremdsprache" der Wiener Volkshochschulen besucht. "Der Lehrer braucht eine Vorstellung davon, was das Lernen von Deutsch als Zweitsprache bedeutet", meint Konrad. Niemand wird ohne Berufserfahrung angestellt.
Vertrauen zum Lehrer
In den Pausen suchen viele Jugendliche einen der drei ausgebildeten Sozialarbeiter VHS auf. Vor allem das geringe Selbstwertgefühl nach schulischen Misserfolgen muss wieder aufgebaut werden. "Die Schüler müssen lernen, sich vorstellen zu können, dass sie selber etwas können", erläutert Michaela Judy. "Damit der Unterricht gelingt, braucht man im Vorfeld schon Vertrauen. Sozialarbeiter wie Unterrichtende wissen das."
Die soziale Kompetenz der Lehrer ist noch aus anderen Gründen wichtig: "Jugendliche im Alter von 15 bis 20 Jahren lösen sich gerade vom Elternhaus, gründen eventuell eine Familie und haben Geld-Probleme", erzählt Konrad. "Hier leisten wir Hilfe." "Jubiz" steht Jugendlichen auch als Beratungsstelle zur Verfügung.
Und dann sind noch einige Zuwanderer durch Erlebnisse in Krisenregionen traumatisiert. Die Sozialarbeiter können hier helfen, starke psychische Probleme aber nicht akut behandeln. Für solche Fälle gibt es ein Netzwerk: "Jugendlichen mit Traumata geben wir Telefonnummern von zuständigen Psychologen", so Gudrun Konrad. "Die Psychologen können uns sagen, wie wir damit am besten umgehen. Wir können nicht alle Probleme lösen, wissen aber, wie wir reagieren sollen."
Das Vertrauensverhältnis zwischen Schülern und Lehrern hält später noch an: Einige suchen nach abgeschlossenem Kurs wieder die VHS Ottakring auf, sobald andere Probleme auftreten. "Leider haben wir kein Geld für eine umfangreiche Nachbetreuung, aber wir tun, was wir können", erzählt Judy.
In den Klassen für den Hauptschulabschluss sind oft viele verschiedene Herkunftsländer mit sehr unterschiedlichen Voraussetzungen vereint. Um besser auf die unterschiedlichen Deutschkenntnisse einzugehen, wird die Klasse einmal in der Woche aufgeteilt. "Wir sind hier flexibler als die Schule", hebt Judy hervor.
Deutschkurse in ganz Wien
Seit 2006 gibt es in Wien flächendeckend Sprach- und Orientierungskurse für jugendliche Zuwanderer. Es handelt sich um eine gemeinsame Initiative der MA 17 (Integration und Diversität) der Stadt Wien und der Wiener Volkshochschulen. Die VHS Ottakring ist innerhalb der Volkshochschulen eine zentrale Beratungsstelle. "Lernbegleitung, speziell für Migranten an weiterführenden Schulen, bietet die VHS Rudolfsheim", erzählt Judy. "Das geht in Richtung Nachhilfe. Die Kooperation mit anderen Volkshochschulen ist sicher wichtig."
Zugewanderten Schülern, die in den Hauptschulen gescheitert sind, bieten Wiens Volkshochschulen ein spezielles Angebot. Warum setzt man nicht beim ersten Bildungsweg an? "In Österreich ist es üblich, Teile der Aufgaben den Eltern zu überlassen", merkt Konrad kritisch an. "Entscheidend ist dann, inwieweit das Elternhaus überhaupt Hilfe für schulische Aufgaben liefern kann. Eine ganztägige Betreuung würde vielen sicher helfen. Die Schul-Sozialarbeit könnte einiges auffangen." Michaela Judy ergänzt: "Das Schulsystem verstärkt soziale Unterschiede, gerade wenn das Elternhaus die nötige Unterstützung nicht bieten kann."