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Wenn das System scheitert

Von WZ-Korrespondent Silviu Mihai

Politik
Die rechtsradikale Ataka zieht mit flüchtlingsfeindlichen Parolen durch die Straßen.
© Viktor Levi

Seit fast einem Jahr schon steckt Bulgarien in der politischen Dauerkrise.


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Sofia. Mitten in der bulgarischen Hauptstadt, am Ende der Flaniermeile Witoscha, sammeln sich wieder Demonstranten. Junge Menschen, viele Studenten, aber auch verarmte Pensionisten, genau wie im Frühjahr. "Echte Demokratie" und "Nieder mit den Monopolen und der Korruption" steht auf den improvisierten Transparenten. Damals, im Februar, hatten die Proteste wochenlang Druck auf die Politik erhöht. Schließlich musste die rechtsliberale Regierung von Bojko Borissow zurücktreten. Und jetzt, ein halbes Jahr nach der vorgezogenen Parlamentswahl, wird jeden Tag der Rücktritt des neuen, linken Kabinetts gefordert. Aber es geht, genau wie damals, um mehr: "Was wir wollen, ist eine grundlegende Erneuerung der politischen Klasse", sagt der Aktivist Aleksander Duntschew, der wieder dabei ist. "Die Politiker aller Parteien müssen endlich begreifen, dass wir uns mit einer demokratischen Fassade nicht zufrieden geben."

Vor dem NDK, jenem Haus der Kultur, das vor der Wende im Stil des "sozialistischen Realismus" errichtet wurde und das zu den Symbolen der Stadt gehört, treffen sich tagsüber Vertreter der diversen Initiativen, die mittlerweile eine breite Bewegung aufgebaut haben. Ob sie ursprünglich Umweltschutzaktivisten wie Duntschew, Gewerkschafter, Studenten oder Medienschaffende sind, spielt keine Rolle mehr. Viele engagieren sich schon seit längerem bei zivilgesellschaftlichen Organisationen, die oft intensiv zusammenarbeiten. Auf den Transparenten ist immer wieder "Rücktritt" zu lesen.

Gemeint sind in erster Linie Ministerpräsident Plamen Orescharski und Sergej Stanischew, Vorsitzender der bulgarischen Sozialisten (BSP) und gleichzeitig Chef der Europäischen Sozialisten. Die vorgezogenen Wahlen im Mai hatten eine Pattsituation hervorgebracht. Die BSP kam auf den zweiten Platz, knapp hinter der rechtsliberalen GERB des zurückgetretenen Premiers Bojko Borissow. Dieser verzichtete auf den Versuch einer Kabinettbildung, weil angesichts seiner ruinierten Reputation keine andere Partei mit ihm koalieren wollte. Daraufhin schmiedeten die Sozialisten eine Allianz mit der DPS, einer Bewegung, die die Interessen der türkischen Minderheit vertritt. Eine neue Regierung konnte im Parlament durchgesetzt werden, doch von einer stabilen Mehrheit kann keine Rede sein.

160 Euro für einen Monat

"Die aktuelle Situation zeigt erneut, wie dringend Bulgarien eine grundlegende Reform der Verfassung und des Wahlrechts benötigt", sagt der Sofioter Politologe Martin Lessinski. "Die Instabilität der Parlamentsmehrheit führt zu einer Handlungsunfähigkeit der Regierung, die die versprochenen Reformen nicht durchsetzen kann. Wir befinden uns in einem Teufelskreis." Vor diesem Hintergrund kam dann auch der fatale Fehler, der die unmittelbare Ursache für den erneuten Ausbruch der Proteste war: In einer Nacht-und-Nebel-Aktion ernannte das Parlament im Sommer den hochumstrittenen Medieninhaber Deljan Peewski zum neuen Chef des Inlandsgeheimdienstes DANS.

Der Schritt galt den meisten Zivilgesellschaftsorganisationen und vielen Bürgern als skandalös, weil Peewski zu jenen Oligarchen gehört, die in Bulgarien, ähnlich wie in anderen Ländern der Region, ihre Medienimperien für die Verfolgung eigener wirtschaftlicher und politischer Interessen instrumentalisieren. Peewskis Zeitungen und Fernsehsender wurden in den letzten Jahren häufig von Monitoring-NGOs für Manipulationen der Berichterstattung kritisiert, einige plausible Erpressungsvorwürfe wurden nie geklärt. Nach heftigen Protesten, an denen sich Zehntausende beteiligten, musste die Regierung die Ernennung zurückziehen. Premier Orescharski entschuldigte sich, BSP-Chef Stanischew sprach von "gelernter Lektion". Doch die Demos ließen nicht nach.

Für die Demonstranten, die sich seit sechs Monaten wieder auf Sofias Plätzen sammeln, bestätigt die umstrittene Personalie den Eindruck, dass die gesamte politische Klasse fragwürdige Verbindungen zu den Oligarchen unterhält, wenn sie nicht direkt den Interessen von großen einheimischen oder ausländischen Unternehmen dient. "Wir möchten gehört werden: Mehr Bürgerbeteiligung und zivilgesellschaftliche Kontrolle, keine intransparenten Deals und echte Demokratie", fordert Duntschew.

Die andauernden Demonstrationen reflektieren zudem die prekäre wirtschaftliche und soziale Lage, in der sich Bulgarien auch sieben Jahre nach seinem EU-Beitritt befindet. Zwar hat sich der Lebensstandard der meisten Bürger in der letzten Zeit ständig verbessert: Die Produktivität und die realen Löhne steigen, der Lew, der an den Euro gekoppelt ist, bleibt stabil, die Geldüberweisungen der hunderttausende in Westeuropa arbeitender Bulgaren bessern die Einkommen der Familienangehörigen auf, die EU-Strukturfonds sorgen für eine Nachbesserung des mageren Staatshaushalts.

Doch das Profil der bulgarischen Volkswirtschaft bleibt typisch für die "abgelegene Peripherie Europas", wie Politologe Martin Lessinski sagt. Im Durchschnitt verdienen die Bulgaren rund 400 Euro im Monat, viele einfache Arbeiter und vor allem Frauen müssen sich mit dem Mindestlohn von knapp 160 Euro begnügen. Dabei liegen in den Großstädten die Preise für Lebensmittel oder Kleidung durchaus oft auf mitteleuropäischem Niveau. Eine Industrie, die hochwertige Produkte fertigt, hat das Land seit 1990 nicht mehr. Auch die touristischen Angebote etwa am Schwarzen Meer werden eher als preisgünstige Alternative für eine schnäppchenorientierte europäische oder russische Klientel wahrgenommen.

Rechte gegen Flüchtlinge

Unter diesen Umständen ist noch keine politische Kraft in Sicht, die mehr Bürgerbeteiligung, mehr Transparenz und ein Ende der chronischen Armut, also wichtige Ideen der Wendezeit, glaubwürdig vertreten kann. Doch von dem Unmut der Bürger wollen viele profitieren, vor allem die Rechtsradikalen. Die nationalistische Partei Ataka und ihr Chef, der auffällige Wolen Siderow, versuchen sich als Apostel der Korruptionsbekämpfung zu inszenieren und damit Kapital aus der politischen Situation zu schlagen.

Hinzu kommt eine Verschärfung der Flüchtlingskrise an Bulgariens Grenze mit der Türkei, die für die Syrer, die dem Bürgerkrieg in ihrer Heimat entfliehen, das Tor der Europäischen Union ist. Die bulgarischen Behörden sind finanziell und logistisch mit den rund 10.000 Flüchtlingen überfordert, die in diesem Jahr ins Land kamen und die laut den Dubliner Abkommen auch dort bleiben müssen, um ihre Asylanträge zu stellen. Die Situation ist eine absolute Premiere in der ganzen Region, Bulgarien hat bisher keine Erfahrung mit Einwanderung und das ist natürlich Wasser auf die Mühlen von Siderow, dessen rassistischen Reden berüchtigt sind. "All das ist noch ganz am Anfang", sagt Politologe Lessinski. Tatsächlich hat Ataka noch nicht einmal entschieden, ob die "jüdische Verschwörung" oder die "untermenschlichen Muslime" der wichtigste Feind der Bulgaren sind. Doch das Scheitern des politischen Systems und die fehlende demokratische Alternative stärken die Anziehungskraft ihrer Parolen.