Weil das Vertrauen in Parteien und politische Institutionen schwindet, wird der Ruf nach direkter Demokratie immer lauter. Eine Analyse.
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Wien. Michael Spindelegger verstand nicht, was sich gerade vor seinen Augen abspielte. Der damalige Außenminister reiste am ersten Sonntag im Mai 2012 nach Glarus, der Hauptstadt des gleichnamigen Schweizer Kantons, wo er am Hauptplatz gespannt ein altes politisches Ritual verfolgte. Würstelbuden, Weinschenken, Luftballons, Blasmusik und Trachten: Unter freiem Himmel kamen 6000 Glarnerinnen und Glarner zusammen, um wie alljährlich per Handzeichen über ihre politische Zukunft zu entscheiden.
Spindelegger harrte trotz strömenden Regens aus und beobachtete. Der Minister wollte erfahren, wie sich so ein Volksentscheid anfühlt, dessen Stärkung er in seiner Heimat so vehement forderte. Und er war schnell überzeugt: "Das will ich auch." Spindelegger wollte den Österreichern das "Schweiz-Gefühl einpflanzen, denn ein bisschen mehr Schweiz würde uns in Österreich guttun".
Auch in diesem Wahlkampf wird nach mehr direkter Demokratie gerufen. Am lautesten von Sebastian Kurz und Heinz-Christian Strache. ÖVP und FPÖ wollen, dass das Volk am Parlament vorbei ein Gesetz erzwingen kann. Demnach sollen Volksbegehren, die von einer bestimmten Zahl von Wahlberechtigten (ÖVP: ab cirka 650.000, FPÖ: ab 100.000) unterzeichnet werden, zu einer Volksabstimmung führen, wenn der Nationalrat dem Begehren nicht ohnehin nachkommt.
Das klingt doch sinnvoll: Endlich muss die politische Klasse die Stimme des Volkes hören. Aber der Reihe nach.
Mehr direkte Demokratie zu fordern, ist schneller postuliert als umgesetzt. Was Spindelegger außer Acht ließ, war, dass sich so eine politische Kultur nur schwer einpflanzen lässt. Die Schweiz übt sich darin seit 150 Jahren. Zwar nicht mehr so wie in Glarus, das ist eine altertümliche Ausnahme. Der Schweizer bekommt aber vier Mal im Jahr ein Kuvert mit kantonalen und nationalen Vorlagen, über die er entscheiden soll. Aber auch diese Kultur lässt sich schwer importieren. Das muss man üben.
Davon ist im österreichischen Diskurs allenfalls am Rande die Rede. Seit Jahren wird der Ausbau der direkten Demokratie zwar fleißig gefordert, aber öffentlich viel zu wenig darüber nachgedacht, was das bedeutet.
Das Recht geht vom Volk aus, heißt es in Artikel 1 der Verfassung. In dieser Debatte sieht die eine Seite dieses Recht mit der Möglichkeit zur Wahl des repräsentativen Parlaments als gegeben. Für die andere Seite ist das nur mit der weiteren Möglichkeit, auf die Geschicke des Landes Einfluss zu nehmen, tatsächlich verwirklicht. Es geht aber auch darum, wie viel Macht die Politik bereit ist, an das Volk abzugeben.
Ruf nach einem demokratischen Placebo?
Seit die Finanzkrise das Vertrauen in die politischen Eliten geschwächt hat, ist die Forderung nach mehr direkter Demokratie lauter geworden. Und sie wird mit jeder Krise und dem Aufstieg rechtspopulistischer Parteien lauter und lauter. Weil vor allem rechte Populisten seit jeher ein Faible dafür haben. Und sie treffen in einer Ära vielschichtiger Unsicherheiten, die sich so gut wie in alle Lebensbereiche hineinfressen, einen Zeitgeist. Laut dem linken britischen Politikwissenschafter Colin Crouch existieren politische Institutionen nur noch als eine Art "leere Hülle". Politik werde lediglich von einer privilegierten Elite gelenkt, während die Mehrheit der Bürger nur eine "passive, schweigende, ja apathische Rolle" spielt. Viele Menschen haben das Gefühl, dass sie in der parlamentarischen Demokratie nichts bewegen können. Hinzu kommt, dass im Kontext der Globalisierung und Europäisierung politische Entscheidungen zunehmend von Wirtschaftsakteuren und supranationalen Organisationen beeinflusst werden. Es wird also in einer Zeit, in der das nationale Parlament an Entscheidungsmacht verliert, nationale Macht versprochen.
"Direkte Demokratie ist der Tod der Demokratie"
Befürworter sehen die direkte Demokratie als Ausdruck der Volkssouveränität und damit als Kontrollinstanz der politischen Klasse. Für sie ist es die geeignetste und transparenteste Form für die Bürger, Einfluss auf die Politik zu nehmen. "In Ihren Augen sorgen Volksabstimmungen für ein klares Mandat (was Wahlen in der Regel nicht tun)", schreibt der bulgarische Autor Ivan Krastev in "Europadämmerung". Sie würden die öffentliche Debatte stimulieren und "erziehen das Volk, wodurch sie den demokratischen Traum einer Gesellschaft informierter Bürger verwirklichen".
Für die Gegner der direkten Demokratie unterliegt dieser Gedanke einem großen Irrtum. Der Volksentscheid führt in ihren Augen nicht zur Ermächtigung des Bürgers. Sondern vielmehr zu dessen Manipulation. Wenn das Volk ein Gesetz vorbei am Parlament erzwingen kann, würden billiger Populismus und Massenmedien mächtiger werden. Weil Referenden zu einer gefährlichen Simplifizierung komplexer Fragen führen können, schreibt Krastev. Der Brexit, das Referendum über den EU-Austritt der Briten, hat gezeigt, dass in Volksabstimmungen manipulatives Gefahrenpotenzial steckt. Der Grund für das Referendum war die Zerrissenheit der Tories und die Unfähigkeit ihres Parteichefs, diesen Streit zu schlichten. Diese Spaltung hat David Cameron ins ganze Land getragen. Lügen und Ressentiments des "Leave"-Lagers, das auf die reichweitenstarken Boulevardblätter zählen konnte, stimmten Großbritannien aus der EU und stürzten das Parlament, das Land und die Union gleichermaßen in eine tiefe Krise.
Aber auch in der Schweiz sind die Schwächen der direkten Demokratie erkennbar. So liegt die Wahlbeteiligung bei Referenden dort bei rund 40 Prozent. Ein Rekordhoch gab es beim fragwürdigen Minarett-Verbot, an diesem Volksentscheid nahmen 55 Prozent der Wahlberechtigten teil – was letztlich auch ein Entscheidung über eine Minderheit war. Ein anderes Beispiel ist der Kanton Appenzell Innerrhoden, der bis zum Jahr 1990 Frauen das Wahlrecht verwehrte. Unter anderem weil die Männer der Landsgemeinde per Mehrheitsentscheid dagegen stimmten. Es brauchte ein Gerichtsurteil, um dort das Stimmrecht für Frauen durchzusetzen.
Außerdem untergrabe die Forderung nach einer erzwungenen Volksabstimmung die Regeln einer parlamentarischen Demokratie, sagt der Kulturwissenschafter Wolfgang Müller-Funk. Denn für Entscheidungen, die vom Volk ausgehen, sei niemand verantwortlich. Gewählte Politiker könnten Verantwortung abschieben und sich auf Volksentscheide ausreden. "Ich glaube, die direkte Demokratie ist der Tod der Demokratie", so Müller-Funk.
Österreich fehlen Kultur und Erfahrung
Gegen die Schwächen dieses Prinzips haben deshalb so gut wie alle demokratische Staaten die repräsentative Demokratie als System, das zwar an Vertrauen verloren hat, aber die emotionale Entscheidung des Augenblicks in der Regel besser abfedern und die Minderheit vor der Willkür der Mehrheit schützen kann.
In besonderen Fällen mag es durchaus sinnvoll sein, das Volk zu befragen. "Im kleinen Ort oder in Grätzeln hat das durchaus seine Berechtigung", sagt Müller-Funk. "Dort sehen die Leute direkt, ob ihre Entscheidung eine positive oder negative Nachwirkung hat." Der Kulturwissenschafter meint, dass die meisten Menschen mit komplexen politischen Sachverhalten schlicht überfordert seien. "Das hilft den Feinden der Demokratie." Deshalb hätten alle großen Demokraten im Interesse des Volkes auch dem Volk misstraut, schrieb der österreichische Philosoph Rudolf Burger einmal.
Österreich ist nicht die Schweiz. Das wird auch so bleiben. Hierzulande begehrte auch selten das Volk, sondern Parteien und Institutionen. Das erfolgreichste Volksbegehren war jenes gegen den Bau des Wiener Konferenzzentrums, das 1982 von der ÖVP getragen wurde. Gegen Gentechnik begehrte 1997 vor allem die "Kronen-Zeitung", für die Aufhebung der Fristenlösung 1975 die ÖVP und die Kirche, und 1969 mobilisierte die Gewerkschaft für die 40-Stunden-Woche. Keines der genannten Projekte hatte zu diesem Zeitpunkt eine Mehrheit im Nationalrat.
Ob das Volk überhaupt mehr Verantwortung haben will, müsste es womöglich sogar selbst entscheiden: Für die Möglichkeit, eine Volksabstimmung erzwingen zu können, so wie sie Kurz und Strache gleichermaßen fordern, ist zumindest eine Zweidrittelmehrheit im Nationalrat erforderlich. Laut einigen Verfassungsjuristen kann aber auch das zu wenig sein, da es sich wohl um eine grundlegende Änderung der Verfassung handelt und dann eine Volksabstimmung durchgeführt werden müsste. Aber es gibt einen möglichen Ausweg: Eine einfache Mehrheit im Nationalrat kann zu jeder Zeit eine Volksabstimmung über ein konkretes Vorhaben beschließen.