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Wenn der alte Vogel fliegt

Von Simon Rosner

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Andrej Schewtschenko ist der sentimentale Held dieser EM, die großen Nationen haben ihre alten Idole daheim gelassen.


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War das wirklich Andrej Schewtschenko oder das Schicksal? Als die Flanke in den Strafraum der Schweden flog, flog auch Schewtschenko. Er flog über Olof Mellberg hinweg und köpfelte den Ball ins Tor. Wie früher, als er noch ein junger Vogel war. Doch heute ist Schewtschenko 35 Jahre alt, und sein Körper ist für das Fußballspielen nicht mehr wirklich geeignet. Er laboriert seit Monaten an chronischen Rückenproblemen, die Knie schmerzen, und es schien, als würde diese Heim-EM um ein paar Monate zu spät kommen. Denn im Vorjahr hatte er für Kiew noch passabel gespielt, doch in diesem Jahr kam er nur auf ein paar Minuten Einsatzzeit. Wie auch im Testspiel vor der Euro gegen Österreich. Da wurde er eingewechselt, blieb aber völlig unsichtbar. Dieser große Stürmer, der bei Milan eine Vereinslegende ist, war nur noch ein großer Name.

Aus rein sportlichen Gründen hätte ihn Teamchef Oleg Blochin nicht einberufen dürfen, aber der Nationalheld kann bei der Heim-EM nicht fehlen. Im Vorfeld des Turniers war also klar, dass Andrej Schewtschenko der sentimentale Held der EM ist, ein Spieler, der sich immense Meriten verdient hat, und der nun noch ein letztes Mal auf der Bühne stehen wird, dem viele einen schönen Abschied aus der Fußballwelt wünschen. Das hat er sich verdient.

Die Wehmut zwingt Fans und Zuschauer, andere Maßstäbe an solche sentimentalen Helden anzulegen. Es ist wie bei der letzten Vorstellung eines großen Schauspielers. Da geht es um anderes als um große Theaterkunst. Bei Schewtschenko bestand jedoch die Gefahr, dass er vom sentimentalen Helden zur tragischen Figur wird. Das ist ein schmaler Grat. Was, wenn er wirklich kaum mehr laufen, wenn er wirklich nur ein paar Minuten spielen kann? Wenn ihm die jungen Burschen der anderen Teams die Bälle abnehmen, als wäre er ein Irgendwer, der nicht gut genug für eine EM ist. Dabei hat Schewtschenko mit der Ukraine schon einmal das WM-Viertelfinale erreicht und bei Milan 175 Tore erzielt.

Bei Ivica Vastic war die Angelegenheit vor vier Jahren eine andere. Er erlebte seinen vierten Frühling in der Liga, es herrschte Stürmermangel, und weil die Fans an ihn glaubten, kehrte er zurück. Josef Hickersberger nahm Vastic als eine Art EM-Heiligen mit, den Elfer gegen Polen schoss Vastic dann tadellos, ansonsten war er einfach dabei.

Große Fußballnationen mit ihrem Überangebot an Spielern verzichten heutzutage darauf, bei großen Turnieren ihre Idole gebührend zu verabschieden. Es gibt gute Gründe, warum Italien auf Filippo Inzaghi verzichtet, Holland auf Ruud van Nistelrooy, die Deutschen auf Michael Ballack und die Spanier auf Raúl. Doch vielleicht werden es die Teamchefs nach der Vorstellung Schewtschenkos bereuen, diese Altmeister nicht dabei zu haben. Von den 17 Chancen gegen Dänemark hätte van Nistelrooy zumindest acht verwertet, die Möglichkeiten von Torres wären für Raúl ein Leichtes gewesen. Und wenn Inzaghi so frei vor dem Tor auftaucht, wie es Mario Balotelli gegen Spanien passiert ist, macht er vier Tore daraus.

Nach seinen Treffern gegen Schweden sagte Schewtschenko, dass er sich jetzt um zehn Jahre jünger fühle. Der Zustand wird wohl nicht lange anhalten, aber was soll’s. Einmal ist er noch geflogen, dieser alte Vogel, und alle haben ihm dabei zugesehen. Es war der bisher schönste Moment dieser Europameisterschaft.