)
Die Separatisten in der Ostukraine beanspruchen ein größeres Gebiet, als sie kontrollieren. Die Grenzfrage könnte zum Vorwand für eine weitere militärische Eskalation werden. Laut Militärexperten würde Russland dann auf Kiew vorstoßen.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 3 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Neben der steten Warnung vor einer unmittelbar bevorstehenden russischen Invasion in der Ukraine hatte es in der strategischen Kommunikation des Westens in den vergangenen Wochen immer wieder auch ein zweites Element gegeben. Mit großer Ausdauer wiesen die Vertreter Deutschlands, Großbritanniens und der USA auf bevorstehende False-Flag-Operationen der russischen Seite hin, die Präsident Wladimir Putin den Vorwand für einen Militäreinsatz liefern sollen - so wie es damals Nazi-Deutschland gemacht hatte, als SS-Mitglieder als polnische Freischärler verkleidet den Sender Gleiwitz überfielen.
Sollte sich der russische Staatschef nach seiner düsteren Rede, in der er der Ukraine mehr oder wenig das Existenzrecht abgesprochen hat, für eine weitere militärische Eskalation entscheiden, wird es aber möglicherweise nicht eine False-Flag-Operation sein, die den angeblichen Casus Belli liefert. Denn ebenso wahrscheinlich erscheint vielen Analytikern und Militärexperten derzeit, dass die Auseinandersetzung über die tatsächlichen Grenzen der am Montag von Russland anerkannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk den entscheidenden Anlass liefern.
Derzeit kontrollieren die pro-russischen Separatisten in der Ostukraine nur die Großstädte Luhansk und Donezk und die südlich beziehungsweise östlich davon gelegenen Gebiete. Von den Rebellen beansprucht wird aber jeweils der ganze Oblast und damit auch jene Gebiete, die unter der Kontrolle der Ukraine stehen. Entsprechend folgenreich wäre daher auch die von den Separatisten geforderte Anerkennung der Oblast-Grenzen durch Moskau. Denn dann würden sich auf einmal ukrainische Truppen auf dem Gebiet der aus russischer Sicht unabhängigen Donbass-Republiken befinden - und der Kreml könnte sich dem "Hilferuf" der bedrängten russischsprachigen Brüder wohl kaum verwehren.
Eindeutige Aussagen zum Grenzverlauf gab es am Dienstag aus Moskau freilich nicht. Während im russischen Außenministerium nur vor einer Anerkennung der tatsächlich kontrollierten Gebiete die Rede war, sprach Kreml-Sprecher Dmitri Peskow zunächst davon, Luhansk und Donezk innerhalb der Grenzen anzuerkennen, "in denen sie ausgerufen wurden". Auf Nachfrage relativiert Peskow dann seine Aussage etwas. Wie schon so oft in den vergangenen Wochen blieb Moskau also im alle Möglichkeiten offen haltenden Ungefähren.
Umzingelung Kiews als Ziel
Für eine Entspannung gibt es aus militärischer Perspektive derzeit jedenfalls keine Hinweise. So haben sich russische Truppen zuletzt aus ihren Verfügungsräumen in Angriffspositionen bewegt, die zwischen 15 und 30 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt liegen.
Sollte sich Putin für einen weiteren Vormarsch auf ukrainisches Gebiet entscheiden, wird der Hauptangriff nach Ansicht des am International Institute for Strategic Studies tätigen Militäranalytikers Franz-Stefan Gady aber nicht aus dem Donbass erfolgen. Vielmehr rechnet Gady mit einem massiven russischen Vorstoß westlich des Flusses Dnepr, der es ermöglicht, den an der Front im Osten konzentrierten ukrainischen Truppen in den Rücken zu fallen. Im Zuge des Vormarsches dürften die vor allem aus Belarus heraus operierenden Truppen auch rasch eine Umzingelung Kiews anstreben - der vermutlich größte Preis eines russischen Militäreinsatzes. Von einer Einnahme der ukrainischen Hauptstadt geht Gady zunächst allerdings nicht aus. "Die Russen würden wohl den Kampf im urbanen Raum vermeiden wollen. Denn dort braucht es ein Verhältnis zwischen Angreifer und Verteidiger von 6:1 bis 10:1 - je nach Stärke des Gegners", sagt Gady zur "Wiener Zeitung." "Und dafür haben die Russen nicht genug Truppen."
Falls es tatsächlich zu einem russischen Angriff auf große Teile der Ukraine kommt, dürfte er aber anders verlaufen als die von Nato-Staaten geführten Einsätze der vergangenen Jahre. So wird es nach Gadys Einschätzung zwar ähnlich wie bei den westlich geführten Einsätzen vorbereitete Luftschläge geben, doch diese werden, da die russische Hauptfeuerkraft am Boden liegt, eine deutlich geringere Rolle spielen. Stattdessen dürfte der Vormarsch der mechanisierten Verbände von heftiger Artillerierunterstützung, sei es durch reichweitenstarke schwere Geschütze oder durch Mehrfachraketenwerfen, gedeckt werden. An neuralgischen Punkten dürfte Russland zudem Luftlandetruppen im feindlichen Hinterland absetzen, um den Gegner auch auf diese Weise zu binden.
Für die ukrainischen Truppen, die es wohl auch mit Cyber-Angriffen und elektronischen Störattacken zu tun bekommen, dürfte es aufgrund der russischen Überlegenheit schwierig werden, die eigenen Positionen zu halten. Ein einfacher Durchmarsch wird es für Russland laut Gady dennoch nicht werden. Auch wenn die Ukraine in den ersten Tagen der Offensive wohl mehrere tausend Tote zu beklagen hat, geht der Militärexperte von einem hohen Blutzoll auf russischer Seite aus.