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Aufgewachsen unter Muslimen in Wedding. | Beschimpfungen und tätliche Angriffe. | Wien. Arye Shalicar lebt heute in Israel - und fühlt sich dort sicher. Und das, obwohl sein Arbeitsplatz bei der israelischen Armee, für deren Presseabteilung er tätig ist, nur wenige Gehminuten von jenem Busbahnhof entfernt ist, bei dem im März eine Bombe hochging. "Ich konnte die Explosion hören und dachte zuerst, da ist ein Brett aus einem höheren Stockwerk hinuntergefallen und auf dem Boden aufgeknallt. Aber dann konnte ich die Sirenen hören." Ja, das passiere. Aber jeder in Israel wisse, dass die Polizei alles tue, damit Anschläge verhindert werden, sagt Shalicar.
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In seiner Jugend in Berlin-Wedding hat er sich dagegen nicht sicher gefühlt. "Die Gefahr lauerte auf der Straße - untertags, abends, in der Nacht." Gefährlich wurden Shalicar muslimische Einwanderer-Kinder. Sie bedrohten ihn, weil er Jude war, lauerten ihm auf. Shalicar hat all diese Begebenheiten in seinem Buch "Ein nasser Hund ist besser als ein trockener Jude" aufgeschrieben. Auf Einladung der Israelitischen Kultusgemeinde las der 34-Jährige vergangene Woche in Wien aus seiner Autobiographie.
Im Gespräch mit der "Wiener Zeitung" erzählt Shalicar, er habe als Jugendlicher ein Doppelleben geführt: Untertags Gymnasiast in einem Migrantenbezirk, abends und nachts war er, wie er es formuliert, "auf der Straße unterwegs". Großteils ohne das Wissen seiner Eltern - er schlich sich aus dem Haus. Das dürfte auch der Hauptgrund dafür sein, dass er vieles von dem, was ihm widerfuhr, seinen Eltern verschwieg.
Shalicar wurde in Deutschland geboren, seine Eltern stammen aber aus dem Iran. Seine Schulklasse bestand zur Hälfte aus Deutschen, zur Hälfte aus Zuwandererkindern. Im Alter von 13 wurde in der Schule über den Holocaust gesprochen. Sein bester Freund, ein Inder, flüsterte ihm zu, dass alle Juden umgebracht gehören. Bis dahin war Religion zwischen den beiden kein Thema gewesen. "Er hat gedacht, ich bin Perser und damit Muslime. Und ich dachte, er ist Inder und daher sicher kein Muslime."
Als sein bis dahin bester Freund anfängt, über Juden herzuziehen, bittet Shalicar ihn aufzuhören - und sagt ihm, dass er selbst Jude ist. Der Freund will ihm nicht glauben. Da trägt er am nächsten Tag eine Kette mit einem goldenen Davidstern-Anhänger. Und setzt sich damit in der Folge nicht nur dem Hass seines Schulkollegen, sondern auch dem anderer muslimischer Jugendlicher aus.
Im Elternhaus spielte das Judentum keine Rolle
Geschenkt bekommen hatte er die Kette zum 13. Geburtstag von seiner Großmutter in Israel. Das unter Juden übliche Bar Mitzwa hat Shalicar aber nicht gefeiert. Tatsächlich hat Shalicars Familie das Judentum nicht gelebt. Als er ein Kind war, hat er sich zum Beispiel gewünscht, Weihnachten zu feiern. "Das ist nicht unser Fest", haben die Eltern geantwortet. "Was ist unser Fest?", wollte der Bub wissen. "Chanukka. Aber das feiern wir auch nicht."
Das Erlebnis mit seinem Ex-Freund verändert sein Leben. "Scheißjude" bekommt er nun zu hören, es wird ihm an Straßenecken aufgelauert, er wird verprügelt. Warum er überhaupt auf der Straße unterwegs gewesen sei, nicht Freunde in der Schule gesucht habe? Die Deutschen seien nicht in den Park gegangen. Er aber habe schon zuvor viel Zeit mit anderen Migrantenkindern verbracht, mit Türken, Arabern, Kroaten, Serben.
Plötzlich aber war er anders - weil nun bekannt war, dass er Jude war. Wenn er heute nach Deutschland gefragt werde, gelte das Interesse immer nur den Nazis. Von Deutschen sei er aber nie beschimpft worden. Wenn er dann von diesem importierten Antisemitismus erzähle, dann seien alle erstaunt. "Das weiß fast niemand."
Nach einigen Monaten der Angst hat ihn ein libanesischer Araber unter seine Fittiche genommen. "Er kam aus einer Mafia-Familie." Shalicar wurde Mitglied einer Gang, Kleinkriminalität und Bandenauseinandersetzungen inklusive. Habe es wirklich keinen anderen Ausweg gegeben? "Ich war ein Jugendlicher. Ich wollte Freunde haben."
Shalicar betont denn auch, dass sich einerseits nicht alle Muslimen ihm gegenüber feindlich verhalten hätte. Er habe auch türkische Freunde gehabt, mit denen er bis heute in Kontakt stehe. Andererseits sei es auch immer wieder unter den verschiedenen Zuwanderergruppen zu Auseinandersetzungen gekommen: zwischen Türken und Kurden etwa, oder zwischen Libanesen und Palästinensern.
Migranten sollen sich ohne Assimilationsdruck einleben
In Deutschland ist Shalicar, obwohl er meint, dass Deutsch nach wie vor seine stärkste Sprache ist, nie heimisch geworden. Hier gehöre man einfach nicht dazu. In Israel dagegen haben alle Familien eine Einwanderungsgeschichte. Natürlich habe er in Israel aber auch alles dazu getan, sich rasch zu integrieren: Innerhalb weniger Monate habe er flüssig Hebräisch gesprochen, seinen Militärdienst absolviert, studiert.
Ist aus seiner Sicht Multi-Kulti in Deutschland gescheitert? Es komme auf den Bezirk an, sagt Shalicar. In Spandau, wo er als Kind gelebt habe, hatte er keine negativen Erlebnisse. Aber in Wedding gebe es kaum Durchmischung mehr, hier leben vor allem Zuwanderer. Und während die Mehrheitsgesellschaft von Migranten nicht die totale Assimilation verlangen dürfe, müssten die Zugewanderten doch auch versuchen, sich zu integrieren - sich auf das neue Land einzulassen.
Arye Shalicars Buch "Ein nasser Hund ist besser als ein trockener Jude. Die Geschichte eines Deutsch-Iraners, der Israeli wurde", ist 2010 im Deutschen Taschenbuch Verlag erschienen.