)
Der Arzt Günther Loewit plädiert für weniger Spitäler und mehr Zuwendung.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 12 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

"Wiener Zeitung": Österreich gibt Unsummen an Geld für Gesundheit aus - 10 bis 11 Prozent des BIP, also etwa 30 Milliarden Euro pro Jahr, ein Anstieg der Kosten wird prognostiziert. Was ist aus Ihrer Sicht zu tun, um die Kosten in den Griff zu bekommen?
Günther Loewit: Kurz gesagt, könnte man aus den 21 Krankenversicherungen drei machen, die Spitalsbetten reduzieren und das frei werdende Geld - oder einen Teil davon - in den niedergelassenen Bereich transferieren. Damit wäre viel getan. Wir haben nicht zu wenige Ärzte, sondern zu viele Kranke. Das beginnt damit, dass wir unsere Kinder schon im Mutterleib sehr häufig untersuchen - man hat den Eindruck, wir beten unsere Kinder krank. Je länger man untersucht, desto eher findet sich etwas: Entweder hat das Kind Plattfüße oder die Ohren stehen ab oder die Haltung ist schlecht. Man findet bei jedem etwas, wenn man will.
Also weniger ist mehr?
Definitiv.
Das ist bei den Ärzten so, bei den Untersuchungen und bei den Spitälern?

Ja, dafür gibt es Beispiele. Wir behandeln Symptome. Fieber ist keine Krankheit - aber es wird sofort behandelt, weil die Menschen in zwei Tagen gesund sein sollen. Zehn Tage Bettruhe würden ausreichen. Man muss warten können. Ein Beispiel sind Einlagen: Schuldirektoren fragen immer wieder, warum ich Kinder nicht zum Orthopäden schicke. Ich sage darauf: Weil der Bub vor dem PC auch mit Plattfüßen sitzen kann; würde er sich bewegen, hätte er keine Plattfüße, und drittens, wenn er Einlagen hat und sich nicht bewegt, werden diese auch nichts nützen. Wir machen so viel Sinnloses.
Die Lektüre Ihres Buchs "Wie viel Medizin überlebt der Mensch?" verleitet dazu, zu sagen: Ich nehme auf keinen Fall mehr Medikamente. Denn entweder sie bewirken nichts oder die Nebenwirkungen sind viel schlimmer.
Ich bekenne, ich nehme ein ganz gering dosiertes Blutdruckmittel.
Also Blutdrucksenker sind sinnvoll.
Ja, absolut. Ich bin bekennender Schulmediziner und ich bin froh, dass es die Pharmaindustrie gibt. Und dann kommt natürlich schon das große Aber.
Ist man besser beraten, die meisten Medikamente - zum Beispiel im Fall einer Erkältung - nicht zu nehmen?
Einige Tage kann man ein Schnupfenmittel schon nehmen, dann wird es für die Schleimhäute heikel. Es gibt kein anerkanntes Grippemittel. Die meisten Menschen leben trotz der Medizin und nicht wegen. Medikamente sind notwendig, Medikamente retten Menschenleben - das ist unbestritten. Aber zurzeit werden Medikamente in einer Überdosierung gegeben, die völlig über das Ziel hinausschießt. Es gibt seriöse Untersuchungen, die sagen, dass kein Computersystem der Welt die Wechselwirkungen von fünf oder mehr Medikamenten noch berechnen kann. Wir haben in Österreich Tausende Patienten, die 15 und mehr Substanzen am Tag schlucken.
"Medizin macht krank." - Das ist ein Satz, den Sie am Ende eines Kapitels über zu rasche Verschreibung von Antibiotika setzen.
Bei allem Respekt der Pharmaindustrie gegenüber muss man sagen, sie hat die Medizin in die Hand genommen. Ärztliche Fortbildung, Lehrinhalte, Forschungsschwerpunkte - das bestimmt die Pharmaindustrie. Es gibt interessante Themen, dazu wird aber nicht geforscht, weil keine Einnahmen zu erwarten sind. Kinder sind so ein Beispiel.
Ist es nicht so, dass Ärztekammer und Sozialversicherung zu wenig Augenmerk darauf legen, den Leistungskatalog zu verändern? Wenn Ärzte für Gespräche nicht honoriert werden, werden Gespräche nicht geführt. Die Verschreibung einer Pille geht rasch und wird entlohnt.
Man müsste das Geld, das die Pillen kosten, den Ärzten geben. Alleine, die Kosten für ein Antidepressivum, das ich verschreibe, um den Patienten möglichst rasch loszuwerden, würden das Honorar einer Stunde decken, um dem Patienten zuhören zu können. Der Großteil der Heilung kommt nicht durch ärztliche Behandlung, sondern von den Menschen selbst.
Sind die Interessen der Allgemeinmediziner in der Ärztekammer zu wenig repräsentiert?
Nein. Die Ärzte unterliegen einer permanenten Gehirnwäsche. Das beginnt schon bei der Zulassung zum Studium, die nur ein mathematisch-wissenschaftlicher Typ schafft. Ein seelsorgerischer Typ schafft diese Aufnahmeprüfung nicht. Dann werden die Inhalte an der Uni zwar hochkarätig vermittelt, aber es fehlt das Krankenbett, es fehlt der Pflegedienst. Berühren, behandeln - das ist völlig abhandengekommen. Nur niemanden angreifen. Wir betreiben eine reine Maschinenmedizin. Wenn der Strom ausfällt, endet die Kunst der Ärzte.
Sie beschreiben auch, dass sich die Gesellschaft Krankheiten schafft.
Das stimmt. Man weiß, dass Kinder, die aus einem intakten Umfeld kommen, um die man sich kümmert und denen Grenzen gesetzt werden, seltener ADHS entwickeln. Nicht jedes aufgeweckte Kind hat ADHS. Aber es wird gepusht von der Pharmaindustrie. Die Amphetamine, die ADHS-Kinder bekommen, sind nichts anderes als das Speed, das am Karlsplatz verkauft wird. Noch besser ist Burnout. Das ist eine Krankheit unserer Gesellschaft. Nach dem Krieg, als die Menschen gehungert haben und kein Dach über dem Kopf hatten, gab es kein Burnout.
Auch weil der Druck zunimmt. Gibt es Burnout oder wird das hochgespielt?
Burnout gibt es, weil die Menschen leiden. Die Menschen sind organisch gesund, aber die Belastungen, denen sie ausgesetzt sind, sind viel zu groß. Die Therapie lautet dann: Krankenstand. Jemand der verbrennt, den muss man vom Feuer wegholen.
Das führt zum Thema "falsche" Krankenstände. Warum schreiben Ärzte gesunde Menschen krank?
Ich habe viele Patienten verloren, weil ich das nicht getan habe. Die Menschen gehen dann zu einem Kollegen, der sie krankschreibt.
Wenn sich alle Ärzte korrekt verhielten, würde ein Wechsel nichts nützen.
Dann wäre es in Ordnung. Aber die wenigsten Menschen wollen das System ausnutzen. Wenn gerade die Mutter gestorben ist, im Job geht alles drunter und drüber und mit dem Geld geht es sich nicht aus, dann versteht man, dass Menschen mit Schnupfen zu Hause bleiben. Da bin ich Saulus und Paulus in einem. Krankenstände sind auch ein gesellschaftliches Problem.
Damit sind wir beim Kapitel der Frühpensionen angelangt. Sie beschreiben einen Fall, wo ein 46-jähriger Mann um eine Kiste Bier wettet, dass er in einem Jahr in Frühpension ist. Auch das geht nur, wenn Ärzte mitspielen.
Die wenigsten sind eiskalte Schmarotzer, aber viele Menschen kommen mit dem Leben nicht zurecht. Viele sagen sich dann, warum soll ich für 900 Euro arbeiten, wenn ich ohne Arbeit 800 Euro bekomme. Das kränkt und was kränkt, macht krank.
Spielen Ärzte bei Frühpensionierungen mit?
Ein bisschen spielen wir mit, ja. Gegen innere Überzeugung, weil wir dem System verhaftet sind. Es stärkt uns auch niemand den Rücken. Wenn ich da einen Aufstand machen würde, hätte ich keine Unterstützung: nicht von meiner Standesvertretung, nicht von der Politik.
Machen wir einen großen Sprung. Man hat den Eindruck, dass im Krankenhaus zwar eine perfekte medizinische Versorgung sichergestellt wird, aber dass die einfachsten Dinge wie Füttern von Menschen, die selbst nicht essen können, nicht gemacht werden. Warum ist das so?
Es geht ums Geld. Kein Patient ist systemrelevant. Wenn man einen verliert, macht man sich einen neuen. Sie finden bei jedem Menschen eine Krankheit, wenn Sie danach suchen. Es geht darum, dass die Betten voll sind, dass das Radl läuft. Warum sonst kann sich Niederösterreichs Landesrat Wolfgang Sobotka sonst hinstellen und sich freuen, wenn er 100 neue Betten eröffnet. Hätten wir weniger Betten, hätten die Krankenschwestern Zeit, den Menschen Essen zu geben. Es ist ja auch interessant, welche Therapien selbst sterbenden Patienten noch angetan werden.
Das bedeutet, wir überbetreuen Sterbende?
Ja. Wir behandeln auch nicht den alten Menschen, sondern unser schlechtes Gewissen. Wir haben ein schlechtes Gewissen unseren Alten gegenüber.
Ihr Resümee: von allem weniger?
Von allem weniger, aber das mit mehr Menschlichkeit, mit mehr Kommunikation. Statt Technik und Pharmakologie Menschlichkeit, das ist mein Plädoyer.
Zur Person: Günther Loewit
Loewit (54) lebt als Schriftsteller und Stadtarzt in Marchegg in Niederösterreich. Loewit wurde in Innsbruck geboren, wo er auch sein Medizinstudium abschloss. 2004 erschien sein erster Roman "Kosinsky und die Unsterblichkeit", es folgen die Romane "Krippler" (2006) und "Mürrig (2008). 2010 schrieb Loewit sein erstes Sachbuch: "Der ohnmächtige Arzt. Hinter den Kulissen des Gesundheitssystems", jetzt ist sein zweites Sachbuch auf den Markt gekommen: "Wie viel Medizin verträgt der Mensch?", Haymon Verlag, 12,95 Euro.