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Wenn der Susu-Sammler kommt

Von Thomas Veser

Wirtschaft

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Bei Sonnenaufgang ziehen die Fischer ein letztes Mal ihre Paddel kräftig durch das Wasser. Dann hebt eine Atlantikwelle den phantasievoll bemalten Einbaum in die Höhe und schiebt das Boot auf den Sandstrand bei Cape Coast. Obwohl die jungen Männer die ganze Nacht an Bord ihres Fangschiffes draußen auf hoher See verbracht haben, verfliegt ihre Müdigkeit angesichts der üppigen Ausbeute: Bis zum Rand ist der Einbaum mit Heringen, Makrelen und Zackenbarschen gefüllt.

Lachend schlagen sich die Männer auf die Schultern und auch ihre "Fish-Mummy", die sich im Auftrag der Bootsmannschaft um die finanziellen Aspekte kümmert, zeigt sich in bester Laune. Kaum sind die Boote entladen, eilen die Kunden herbei. Schnell sind die kapitalen Brocken verschwunden, sie gehen ausnahmslos an die zahlungskräftigen Ausländerhotels.

Christiana Attajbah muss sich mit kleinen Fischen begnügen. Sie steht an der Spitze einer achtköpfigen Frauengruppe, die Fische räuchert und auf den Märkten anbietet. Für ghanaische Verhältnisse deckt sich die 43-jährige Frau an diesem Morgen mit gewaltigen Mengen an Heringen und Makrelen ein.

Aufbau eines Unternehmens fast ohne Sicherheiten

Aus eigenen Mitteln hätte sie diese Summe nicht aufbringen können. Christiana Attajbah zahlt mit einem Kredit, den sie vom Christian Rural Aid Network (CRAN) erhalten haben. Das 1984 gegründete Hilfswerk, das von der Deutschen Welthungerhilfe (dwhh) unterstützt wird, gewährte den Fischräucherfrauen zudem Mittel für Metallroste und Brennholz.

Niemals hätten sie sich mit ihrem Anliegen an eine herkömmliche Bank gewandt: "Wir können keine Sicherheiten vorweisen, zudem geht es monatelang, bis Bankkredite bewilligt und ausgezahlt werden. Und auch die Zinsen sind sehr hoch", begründet Christiana Attajbah ihren Schritt. Banken gibt es nur in größeren Städten, die zu erreichen für die Frauen mühselig und zeitraubend ist.

Gemeinsam Sparen hilft auch den Banken

Um dem ländlichen Kleingewerbe Darlehen zu vermitteln, entwickelte die gemeinnützige Organisation ein Verfahren, das zunächst einmal eisernes Sparen voraussetzt. Wer Bargeld will, muss mindestens drei Monate lang Beträge, deren Höhe er selbst bestimmt, auf ein Sparkonto einzahlen. Um das finanzielle Risiko zu begrenzen, hat man die maximale Höhe eines Darlehens auf 200 Prozent der jeweils angesparten Summe festgesetzt.

"Susu" heißt dieses ghanaische Spar- und Kreditsystem, das in ganz Schwarzafrika weit verbreitet ist. Nach einem zuvor vereinbarten Turnus, etwa täglich oder einmal pro Woche, suchen Susu-Geldsammler die Sparer bei sich zuhause auf, holen den Geldbetrag ab und bringen ihn zu einer zentralen Sammelstelle. Anschließend wird die Gesamtsumme auf ein reguläres Gemeinschaftskonto einer Geschäftsbank eingezahlt. Für diese Dienste behalten die Susu-Kollektoren monatlich in der Regel pro Kunde eine Sparrate ein. Gemessen an den geringen Beträgen, die Afrikas Landbevölkerung täglich erwirtschaftet, lohnt sich individuelles Sparen nicht, da den üblichen Banken ein zu hoher Verwaltungsaufwand entstünde.

Altes Susu-System an neue Erfordernisse angepasst

Das Hilfsnetzwerk CRAN hat das seit rund einem halben Jahrhundert bestehende Susu-System weiterentwickelt, indem die Organisation ein Netz von Dorfkassen gründete. Dieser feste Bezugspunkt ist wichtig, weil sich in der Vergangenheit immer wieder Susu-Kollektoren mit den einkassierten Beträgen aus dem Staub gemacht hatten. Auch die Justiz konnte nicht helfen, da die Betrüger noch nicht einmal einen festen Wohnsitz besaßen.

In den Dorfkassen kann die Kundschaft ihr Geld selbst einzahlen; wohnen die Menschen zu weit weg, holen mit Mopeds ausgestattete CRAN-Mitarbeiter den Betrag ab. Auf Sparzinsen müssen die Einzahler vorläufig verzichten, mit diesen Erträgen wird das Susu-Personal bezahlt.

Als Mindestbetrag wurden 500 Cedis, umgerechnet 10 Cent, festgelegt. Im Durchschnitt trennen sich die Kunden bei jedem Kassengang von umgerechnet 3,50 Euro. Diese kleineren Summen kann jeder Kleinhändler regelmäßig aufbringen. "Dabei fühle ich mich einfach wohler", meint Marian Koomson, die in der Küstenstadt Elmina einen Imbiss-Stand betreibt und mit den Tageseinnahmen in der benachbarten Zweigstelle ihre Sparrate einzahlt.

Patrick Agbesynale, der mit seiner Frau Doris 1984 CRAN gründete, plante ein Netzwerk für die wirtschaftlich benachteiligte Landbevölkerung. Seither erbaute CRAN fünf Schulen für Grundschulunterricht und Berufsausbildung. Das Hilfswerk ließ Leitungen legen, um Dörfern Zugang zu Trinkwasser zu verschaffen und beteiligt sich an der Wiederaufforstung.

Außerdem werden Dorfbewohner zu Imkern sowie Pilz- und Schneckenzüchtern ausgebildet.

Rund ein Drittel der ghanaischen Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze, ihre täglichen Einkünfte schwanken sehr stark. Selbst unternehmerisch veranlagte Menschen können aus diesem Teufelskreis der Armut nicht ausbrechen, weil ihnen Startkapital vorenthalten bleibt.

Der Umgang mit Krediten muss oft erst erlernt werden

Als die Agbesynales 1993 erstmals Kredite für Kleinunternehmer angeboten hatte, musste es zunächst eine Enttäuschung verkraften. "Die meisten Empfänger haben sich schlicht geweigert, das Geld zurückzuzahlen", erinnert sich Doris Agbesynale.

Daraufhin griff das Hilfswerk auf die Susu-Praxis zurück. Und damit hat man gute Erfahrungen gemacht: 94 Prozent der Darlehen werden pünktlich zurückgezahlt. Über das Einsammeln der Beträge halten die Mitarbeiter der Gemeinschaftskasse persönlichen Kontakt mit den Kunden und sind frühzeitig im Bild, wenn Schwierigkeiten beim Einzahlen der Sparquote auftreten.

Frauen, die kleine Geschäfte betreiben, beantragen am häufigsten Darlehen, ihr Anteil an der Kundschaft liegt bei 80 Prozent. In der Gruppe der Männer überwiegen die Besitzer von Autoreparaturwerkstätten. Patrick Koomson (40), benötigt das Kreditangebot, wenn er Werkzeuge einkaufen muss. Laufen die Geschäfte schlecht, lässt sich im Gegensatz zu einer normalen Bank der weitere Verlauf des Sparvorgangs nach den Bedürfnissen des Schuldners flexibel verändern.

Vorausplanung am Land anscheinend nicht Usus

Es gehört zu den Eigenarten der schwarzafrikanischen Länder, dass sich Menschen auf dem Land üblicherweise spontan um einen Kredit bemühen. Das ist eigentlich überraschend, weil Fischer und Fischräucherfrauen genau wissen, zu welchem Zeitpunkt sie größere Geldbeträge benötigen.

Vom August bis in den Januar hinein verzeichnet man an der Küste die besten Fangergebnisse. Pünktlich zum Auftakt der Saison "kommen sie alle fast gleichzeitig und brauchen dringend große Beträge", klagt Vincent Atsiatormue (29), Leiter einer Zweigstelle im Fischerdorf Shama Kedzi.

Christiana Attajbah hat mit ihren Mitarbeiterinnen unterdessen 25 Kilogramm Heringe gewaschen und auf Metallrosten zum Räuchern angeordnet. Dass sie ihre Darlehen mühelos zurückzahlen kann, ist gewiss auf ihren Geschäftssinn zurückzuführen. Sie lagert einen Teil der konservierten Waren ein und wartet so lange, bis auf den Märkten Fisch knapp wird und die Preise klettern.