Auch aus rechtslinguistischer Sicht sollten wir bei der Sprachverwendung des NS-Straf(un)rechts genauer hinsehen.
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Warum soll man sich heutzutage noch mit der nationalsozialistischen Justiz auseinandersetzen? Ist nicht alles gesagt, nicht alles schon so lange her? An den vielen Urteilen, die gesprochen, an den (Todes)Urteilen, die vollstreckt worden sind, ist doch ohnehin nichts mehr zu ändern. Was kann man also von der Beschäftigung mit der Sprache einer Diktatur in der (Un)Rechtsanwendung lernen?
Der Bezirksvorsteher von Floridsdorf, Georg Papai, hat es zuletzt in einer Rede am Abendgymnasium Wien zu den Novemberpogromen 1938 auf den Punkt gebracht: "Sagen wir nicht, das ist schon so lange her, lasst einmal Gras darüber wachsen. Erliegen wir nicht der trügerischen Überheblichkeit, ,so etwas‘ könnte sich in der heutigen Zeit der fortschrittlichen Aufgeklärtheit und der medialen Transparenz nicht mehr wiederholen." Es ist also einerseits die Erinnerung an die unschuldigen Opfer und andererseits der Auftrag zur Gestaltung einer menschenwürdigen Zukunft gleichermaßen, die uns dazu verpflichten, der Fratze der Diktatur ins Auge zu blicken. Denn: Nur, wenn wir sehen, wie Unrecht zu Recht wird, können wir erkennen, was einen funktionierenden Rechtstaat ausmacht, warum es sich lohnt, Tag um Tag ohne Unterlass für den demokratischen Rechtstaat einzutreten.
Aus rechtslinguistischer beziehungsweise sprachsoziologischer Sicht gibt es aber auch ein weiteres Argument, warum wir bei der Sprachverwendung des NS-Straf(un)rechts genauer hinsehen sollten. Auch die Diktatur muss den Schein der Rechtstaatlichkeit wahren, muss Urteile legitimieren, muss Sanktionen unterschiedlicher Art rechtfertigen. Die rechtslinguistische Analyse von 178 Bewerbungsschreiben für die Position des Scharfrichters zwischen 1933 und 1945 zeigt deutlich, wie bereitwillig sich Bewerber für die Vollstreckung von Todesurteilen zur Verfügung stellten.
Das Auslösen des Fallbeils aber ist ein stumpfer Akt des Mordens. Er unterscheidet sich von juristischer Feinarbeit, dem systematischen Ersinnen von Urteilsbegründungen, die sich aus wirkungsmächtigen Legitimierungsdiskursen speisen. Urteile müssen auf Einzelfallbasis gesprochen und anschließend nach bestimmten Kriterien ausformuliert werden.
Sprachverwendung der NS-Richter wird untersucht
In einem derzeit laufenden Forschungsprojekt der Österreichischen Gesellschaft für Rechtslinguistik (ÖGRL) untersuchen Rechtslinguistinnen und Juristen die systematische Sprachverwendung der NS-Richter bei der Begründung von (Todes)Urteilen. Ziel ist die Annäherung an Legitimierungsdiskurse am Beispiel von Eigenschaftswörtern.
Im Urteil gegen die Monteurin Leopoldine Sicka, die Schneiderin Anna Gräf, den Eisengießer Franz Sikuta und den Tapezierer Karl Mann wegen der Vorbereitung zum Hochverrat heißt es beispielsweise: "Die Angeklagten haben [. . .] als Funktionäre am Aufbau des kommunistischen Jugendverbandes in Wien mitgearbeitet, den kommunistischen Hochverrat auch durch Flugschriften - teilweise mit defätistischen Parolen an Wehrmachtsangehörige - sowie durch Beteiligung an Sabotageakten vorbereitet, die Wehrkraft zu zersetzen gesucht und dem bolschewistischen Todfeind damit Vorschub geleistet. Sie sind für immer ehrlos und werden zum Tode verurteilt."
Willkür wird durch Vagheit in die Form der Sprache gegossen, was eine wissenschaftliche Beschäftigung und exemplarische Verwendung für Bildungs- und Ausbildungszwecke (zum Beispiel im Jusstudium beziehungsweise im richterlichen Vorbereitungsdienst) sinnvoll und bereichernd erscheinen lässt.
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