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Wenn die Kapitalismuskeule zuschlägt

Von Franz Witzeling

Gastkommentare
Franz Witzeling ist Soziologe und Psychologe.

Die zügellose liberale Marktwirtschaft zeigt jetzt, in der Zeit der Krise, ihr wahres Gesicht.


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Als der Eiserne Vorhang gefallen war, hatte der Sozialismus sein Gesicht verloren. Heute, in der Krise, fordert der Kapitalismus Solidarität ein, um sein Gesicht zu bewahren.

Wie bewerten die Menschen ihre Lebenssituation, die weder damals im Sozialismus noch heute in der kapitalistischen liberalen Marktwirtschaft eine systembestimmende Rolle spielten und spielen?

Manche, zurzeit ist es noch die Mehrheit, ergeben sich mit satter Lethargie ihrem Schicksal. Nach und nach aber braut sich ein Widerstand von Wutbürgern zusammen, die sich mit den immer enger werdenden Rahmenbedingungen, die von Wirtschaft und Politik vorgegeben werden, nicht mehr abfinden wollen.

Das Paradigma, von dem man ausgehen sollte, ist mit der zentralen Frage verbunden: "Bestimmt der Mensch seine Lebensumstände demokratisch selbst, oder sind es die sozioökonomischen Rahmenbedingungen, die den Menschen virtuelle Freiräume suggerieren?"

Wem diese paradigmatische Frage zu abgehoben oder zu wissenschaftlich erscheint, der kann anhand von zahlreichen lebenspraktischen Beispielen die Schizophrenie unserer Konsumgesellschaft verifizieren.

Die Kapitalismuskeule hat sicher jene getroffen, die ihren Arbeitsplatz an einer verlängerten Werkbank eines internationalen Konzerns verloren haben, obwohl dieser vor nicht allzu langer Zeit aus Steuergeldern eine gewaltige Förderung bekommen hatte. Nun stehen die Betroffenen vor versperrten Werkstoren und einem Berg von privaten Schulden, die sie wegen aufgenommener Kredite für ihr Eigenheim haben. Und damit nicht genug, schlägt die Kapitalismuskeule nochmals zu: Der Bankberater hat seinerzeit einen Kredit in günstiger Fremdwährung angeraten. Jetzt steigen die Kurse dieser Fremdwährung in schwindelnde Höhen wie auch die Rückzahlrate. Wir sind pleite und leiden an Burn-out. Wir haben, wie es in den klassischen Märchen so klar metaphorisch dargestellt wird, unsere Seelen verkauft.

Nun mutieren die Menschen zu seelenlosen Wesen, die wie hohle Gefäße mit jedem Inhalt manipulativ gefüllt und erfüllt werden können. So sitzen zur Einschaltquote reduzierte vereinsamte Existenzen vor den TV-Schirmen und ziehen sich suchtartig die einfältigsten Formate hinein, in der Hoffnung, zumindest einen kleinen Funken Identität erhaschen zu können.

In Karl Marx’ Mehrwert-Theorie konnte man davon ausgehen, dass die als solche bezeichneten Proletarier den Mangel an gerechtem Anteil am Gewinn bewusst empfanden und mit stetig wachsendem politischem Bewusstsein auch einfordern konnten. Heute ist das Schweigen der Lämmer angesagt, nachdem die Kapitalismuskeule alles, was noch als Rest von Widerstand da war und ist, bereits plattgemacht hat. Ernst Blochs "Prinzip der Hoffnung" gilt gerade heute in Zeiten der Krise des Kapitalismus - denn als solche muss man den Crash an den Börsen einstufen und nicht als eine Krise der Kraft der Menschen, sich wieder aufzuraffen und wieder neue Wege gesellschaftspolitischer Zukunft zu gehen.