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Gesundheit sei die mächtigste und teuerste Religion aller Zeiten, sagt der Kölner Theologe, Psychiater und Psychotherapeut Manfred Lütz und spricht in seinem Buch "Lebenslust" gar von einem "monströsen Kult". Populistisch formuliert er: "Es gibt Menschen, die leben überhaupt nicht mehr, die leben von morgens bis abends nur noch vorbeugend und sterben dann gesund. Aber auch wer gesund stirbt, ist definitiv tot".
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Eine solch starke "Religion" braucht Propheten. Die hat Lütz u. a. in den Gesundheitsseiten und TV-Magazinen der Medien ausgemacht. Sie sind auch dem stellvertretenden Vorsitzenden der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Baden-Württemberg, Wolfgang Herz, ein Dorn im Auge. Im "Forum Kontext" der KV schrieb er: "In der medialen Wirklichkeit werden Heilsversprechen besonders glaubhaft. Die Omnipotenz gesundheitlicher und medizinischer Informationen weckt Hoffnung und Anspruchserwartung der Versicherten." Die Medienschule entließe den "desinformierten Patienten", schimpft Herz.
Hat aus dieser Schelte etwa der Münchner Medienkonzern Hubert Burda Media gelernt? Auf der Bezahl-TV-Plattform von Premiere bietet seit kurzem "Focus Gesundheit" das erste 24-Stunden-Programm rund um das Thema in Deutschland. "Uns geht es um den informierten Patienten" versicherte ein Focus-Sprecher kürzlich der Deutschen Presse-Agentur. Man setze mit dem Programm stark auf Prävention, weil es eine gigantische Nachfrage gäbe. Für den Münchner Medienkonzern gibt es aber noch eine zweite Motivation. So wirbt der Sender im Internet: "Focus Gesundheit" bietet Werbungstreibenden eine neue, interessante Möglichkeit, attraktive Zielgruppen im Markt zu erschließen und bietet beste Voraussetzungen für erfolgreiche Crossmedia-Strategien im Markt der Gesundheit. Dieser Markt der Gesundheit ist inzwischen (nicht zuletzt wegen der wachsenden Zahl der "Religions-Zugehörigen") zu einem monströsen Industriezweig mit einem Volumen von 280 Milliarden Euro mutiert.
Die gilt es u. a., mit hohen Einschaltquoten im Spannungsfeld zwischen Information und Desinformation aufzuteilen. Information und Desinformation führen in aller Regel aber zu Irritation und Konfusion, wahlweise auch zu Desinteresse, Stumpfsinn, Kritiklosigkeit und Folgsamkeit, die mit der Umsetzung von Ratschlägen in Schach gehalten werden: Eigen-Urin zum Frühstück, Nabel-Smaragd gegen Bauchschmerzen, Aromatherapie gegen Durchfall und Beitritt in einen Lachklub, weil Lachen gesund ist.
Mediale Wirklichkeit
Realität des täglichen Lebens und mediale Wirklichkeit sind zwei Ebenen öffentlichen Bewusstseins, deren Konturen sich zunehmend verwischen. Ein Zustand, in dem auch Unzufriedenheit und Ansprüche geboren werden. "Die Medien wecken Hoffnungen. Sie initiieren Bedarf und damit Kosten. Es ist das Umfeld, es ist die emotionale Übertragung, was Glaubwürdigkeit herstellt", schreibt Herz. Für diese emotionale Übertragung braucht es Sympathieträger und für diese wiederum Vermittler. So bietet zum Beispiel das Institut für Gesundheitsaufklärung in Geldern seine Dienste wie folgt an: "Gern helfen wir Ihnen bei der Suche nachmedientauglichen (!) Experten für TV-, Print-, Radio- oder Internet-Veröffentlichungen zu den unterschiedlichsten Fragestellungen". Wohl deshalb sieht man auch immer die gleichen Gesundheits-Experten auf den Bildschirmen. Sie sind eben medientauglicher als andere, die es möglicherweise besser wissen, wie man gesund bleibt und dafür einfachere Tipps auf Lager haben.
Der Hamburger Professor für Psychiatrie Klaus Dörner hat neben Medien die "permanente Entlastung infolge des Fortschritts" als Ursache für Gesundheitswahn, vor allem aber für die Zunahme von Volkskrankheiten ausgemacht. Gegen die muskuläre Unterlastung sei eine - ziemlich vergebliche - künstliche Wiederbelastungsindustrie erfunden worden, schreibt er im Buch "Die Gesundheitsfalle". Und auch psychosozial seien wir unterlastet, weil wir es Gesundheits- und Sozialprofis überließen, anderen in Krankheit und Not zu helfen.
Psychosoziale Unterforderung
Die Zunahme psychischer Störungen sieht Dörner als Folge psychosozialer Unterforderung, da jeder Mensch sein optimales Tagesquantum von "Bedeutung für andere" brauche und auch der Körper gefordert sein will, um gesund zu bleiben.** Fazit: Statt 24 Stunden widersprüchliche Gesundheitsinformationen zu konsumieren, sollte man einfach das tun, was einem selbst gut tut, um gesund zu bleiben. Man sollte einfach leben.