Drittel kann sich Miete nicht leisten. | Oberstes Gericht: Arme dürfen leere Wohnung besetzen. | Rom. "La casa" ist in Italien der Ausdruck schlechthin für die Heimstatt, das "Zuhause" - ob es sich nun um eine Einzimmerwohnung oder eine Villa handelt, eine Miet- oder eine Eigentumswohnung. Sieben von zehn italienischen Familien sind Eigentümer einer "casa". Beide Seiten, sowohl Mieter als auch Eigentümer, sind jedoch in einer Krise. Laut einer Studie des Zentrums Nomisma ist für 3,6 Millionen italienische Familien das Anmieten einer Wohnung ein großes Problem. Die Studienautoren gehen davon aus, dass sich eine Familie in einer Notsituation befindet, wenn sie mehr als 30 Prozent ihres Einkommens für die Wohnung ausgeben muss.
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Ein Drittel von 4,5 Millionen Familien, die landesweit in Mietwohnungen leben, könne demnach seine Miete nicht mehr bezahlen, so die Studie. Und immerhin zehn Prozent der Eigentümer von Wohnungen seien nicht imstande, die Raten ihres Kredites zu begleichen. Aus einer weiteren Untersuchung zu Mietwohnungsangeboten in den wichtigsten Städten Italiens, die drei Mietergewerkschaften durchgeführt haben, geht hervor, dass etwa eine 80-Quadratmeter-Wohnung in der Peripherie von Rom, Mailand oder Florenz durchschnittlich 1000 Euro pro Monat kostet. Der nationale Durchschnitt liegt bei einer vergleichbaren Wohnung am Stadtrand bei 800 Euro Monatsmiete.
Noch teurer wird es in den Großstädten selbst - und das nicht einmal direkt im Zentrum: In Rom muss man bei 80 Quadratmetern mit 1750 Euro Miete rechnen, in Mailand sind es sogar fast 2000 Euro. Selbst in Bari ganz im Süden findet man kaum eine 80-Quadratmeter-Wohnung unter 500 Euro. Aufs Jahr hochgerechnet geben "arme" Familien laut Studie 15.000 bis 30.000 Euro für die Miete aus - das seien 40 bis 80 Prozent ihres Gesamteinkommens. Kein Wunder also, dass die Zahl der Räumungsklagen 2006 um fast 8,5 Prozent gestiegen ist.
Und die Steuerhinterziehung bei Mietverträgen - nicht zuletzt wegen der prekären finanziellen Situation - wird auf fünf Milliarden Euro geschätzt. Die Gewerkschaften verlangen daher steuerliche Zugeständnisse für Mieter und Vermieter. Trotz vieler Versprechungen scheinen diese aber nicht in die Budgetdebatten für 2008, die dieses Wochenende beendet werden, eingeflossen zu sein. Besonders die Herabsetzung der gefürchteten Gemeindeabgaben auf Immobilien dürfte eher mager ausfallen.
Zurück ins Hotel Mamma
Eine Blüte dieser Entwicklungen ist, dass viele Italiener nach einer Scheidung keinen anderen Ausweg sehen, als ins "Hotel Mamma" zu ziehen - und so kehren oft junge Mütter samt Kindern, aber auch ihre Lebensgefährten wieder zu den Eltern zurück, da sie außerstande sind, ihre Mieten allein zu bezahlen.
Und eine weitere Konsequenz hat die Misere: Laut einem aktuellen Urteil des Obersten Gerichtshofes ist die Beschlagnahme einer fremden, leer stehenden Wohnung durch bedürftige Menschen keine strafbare Handlung mehr. In erster Instanz war eine 39-jährige Römerin, die mit ihrem Kind unbefugt eine Wohnung in einem Sozialwohnbau besetzt hatte, zu 600 Euro Strafe verurteilt worden. Die zweite Instanz bestätigte das Urteil, in dritter Instanz schlugen sich dann aber die Höchstrichter auf ihre Seite. Die Mutter konnte ihren Notstand beweisen, der ihr den Zutritt zum freien Wohnungsmarkt verunmöglicht hatte.
Umstrittenes Urteil
Fast gleichzeitig kommt nun ein weiterer Richterspruch zum Tragen: Demnach dürfen Gemeindeverwaltungen leer stehende Wohnungen beschlagnahmen und ausquartierten Familien zur Verfügung stellen. Die Reaktionen darauf fallen unterschiedlich aus. Der linksradikale Solidaritätsminister Paolo Ferrero lobt das Urteil als "Tat von Zivilisation".
Salernos linksdemokratischer Bürgermeister Vincenzo De Luca bezeichnet es als "juristisch bizarr". Und er ist besorgt: "Ein Zuhause zu haben, ist ein primäres Recht - aber auch die Arbeit. Da könnte ja jeder gewalttätig irgendein Büro besetzen und dann auch noch ein Gehalt verlangen." Der Abgeordnete Giuseppe Consolo erinnert, dass auch das Eigentum ein primäres Gut sei. Die Lega spricht von "proletarischen Enteignungen".
Es wird gemunkelt, dass die Regierung die Situation entschärfen will, indem sie nun Einfluss auf die Höhe der Mieten nimmt.