Was die Terroranschläge vom 11. September 2011, die sich in Kürze zum zehnten Mal jähren, mit der jüngsten Krise der Weltwirtschaft gemeinsam haben.
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Freie Märkte sollten theoretisch selbstkorrigierend sein. Geraten sie aus dem Gleichgewicht, sollte das System durch Preisanpassungen wieder in Balance kommen. Auch in demokratischen politischen Systemen sollte der gleiche Regenerationsprozess wirken. Was wir jetzt erlebt haben, wirkt desorientierend. In der wirklichen Welt finden aus dem Gleichgewicht geratene Systeme nämlich nicht automatisch wieder zu ihrer Balance.
Das ist eine Zeit "ungebremster Oszillation". Das System erhält einen Stoß, wirtschaftlich oder politisch. Theoretisch sollte das Kräfte der Marktanpassung oder des politischen Konsenses hervorrufen, die das Gleichgewicht wiederherstellen. Die Schwingung scheint sich jedoch auszuweiten. Eine Störung, die erst handhabbar erschien, wird größer und gefährlicher, während das System auf- und abschwingt.
In Kürze jährt sich zum zehnten Mal eine der größten Erschütterungen, die dem politischen System der USA je zugefügt wurden: die Terroranschläge vom 11. September 2001. Auch hier funktionierten die gesunden Stoßdämpfer nicht. Das ursprüngliche Beben der Anschläge wurde durch die Reaktion verschlimmert. Der Terrorangriff, so schrecklich er war, führte zu dem, was Historiker wohl als Überreaktion einstufen werden.
Ökonomen und Politologen haben bereits vor einem Jahrhundert die Probleme erkannt. Das Bemühen, das Scheitern der Märkte und soziale Unruhen zu verstehen, half, die moderne Wirtschafts- und Politikwissenschaft zu entwickeln. Es ist eine zentrale Erkenntnis von John Maynard Keynes, dass die selbstkorrigierenden Mechanismen der klassischen Ökonomie nicht immer funktionieren. Daher setzte er sich für staatliche Interventionen ein. Er mochte aber Regierungsausgaben nicht besonders, er erkannte, dass Märkte mitunter überreagieren und Ängste und Vorlieben der Individuen zu einem kollektivem Verhalten verstärken, das wiederum dazu führen kann, die Lage aller zu verschlechtern. Eine zeitgenössische Version davon sehen wir derzeit: Erschrockene Investoren lassen die Weltwirtschaft auf- und abspringen wie einen Tischtennisball:
Keynes-Anhänger zogen in den 1930ern die Schlussfolgerung, dass das Eingreifen der Regierung ein Scheitern der Märkte kompensieren kann. Ein ähnliches Vertrauen in die Regierung - nicht nur in die Wirksamkeit der Fiskalpolitik, sondern in die Fähigkeit demokratischer politischer Systeme, Probleme zu lösen - trieb 1945 nach dem Sieg über den Faschismus die Verbreitung demokratischer Werte der USA weltweit voran, wie auch später, nach dem Kollaps des Kommunismus. Freie Märkte und demokratische Systeme galten nicht nur als wünschenswert, sondern als unerlässlich.
Der schaurigste Aspekt der aktuellen Krise ist, dass das Vertrauen in demokratische Regierungsformen auf die Probe gestellt wird. Die politischen Systeme in Europa und den USA haben sich als unfähig erwiesen, zentrale Finanzprobleme zu lösen. Sie zeigen sich keineswegs selbstregulierender als die ökonomischen.
Auch Europa ist ein Musterbeispiel politischer Funktionsstörungen. Seit Jahren ist klar, dass man keine gemeinsame europäische Währung haben kann und gleichzeitig 16 unterschiedliche Fiskalsysteme in der Eurozone. Das Versagen der europäischen Politiker ist nicht geringer als das ihrer Kollegen in den USA.
Was bleibt an Vorbildern? China, Russland, Indien, die Türkei? Kein Wunder, wenn die Welt depressiv ist.
Übersetzung: Redaktion.
Der Autor war Chefredakteur der "International Herald Tribune". Seine Kolumne erscheint auch in der "Washington Post".