Nach der Tragödie von Kaprun waren die Notfallpsychologen voll im Einsatz. Können diese Spezialisten tatsächlich irgendwie helfen? Und welche Möglichkeiten haben sie? Die "Wiener Zeitung" ging diesen Fragen nach und ließ sich von Experten erläutern, welche gesundheitlichen Folgen schweres menschliches Leid nach sich zieht bzw. nach sich ziehen kann.
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Bei Frau X. läutet das Telefon. Sie zuckt wie elektrisiert zusammen, wie jedes Mal die letzten Tage, wenn dieses Klingeln in die Stille ihrer Wohnung eindringt. Die Erinnerung überwältigt sie. Die leidgeprüfte Frau erlebt noch einmal den Moment, als der furchtbare Anruf kam. lhr Mann, sagte die Stimme, die sie noch nie gehört hatte, sei unter den Vermissten von Kaprun. Jetzt hat sie diese Stimme wieder im Ohr. Und die schreckliche Botschaft, die sie ihr überbrachte.
Schreckliche Erinnerung
Frau X. ist als Angehörige eines Verunglückten kein eigentliches Opfer und doch ein Opfer. So wie Herr Y. Auch er kommt nicht zur Ruhe. Er war einer der Helfer am Kitzsteinhorn im Tunnel. Immer wieder steigt ihm der entsetzliche Geruch in die Nase, der die ausgebrannte Röhre füllte. Immer wieder kommen auch diese quälenden Bilder in ihm hoch. Was er sehen musste, lässt sich nicht abschütteln.
Frau X. und Herr Y. sind Sekundärtraumatisierte, wie PsychologInnen in ihrer Fachsprache sagen. Solche Menschen leiden unter sogenannten flashbacks, marternden Erinnerungen, die sie immer wieder überfluten und nicht loslassen.
,,Solche Symptome sind neben anderen Reaktionen wie Unruhe oder Gedächtnis- und Schlafstörungen typisch für eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)", so der Salzburger Notfallpsychologe Clemens Hausmann.
Eine solche Belastungsstörung muss nicht auftreten, aber sie kann: Aus Studien und Erfahrung - z. B. das Zugunglück von Eschede - weiß man mittlerweile gesichert, dass jeder Dritte deutlich unter Stresssymptomen leidet, wenn er einem traumatisierenden Ereignis ausgesetzt war. Egal, ob es sich dabei um ein direkt betroffenes Opfer oder Angehörige, Helfer und andere Sekundärtraumatisierte handelt (Näheres dazu im Kasten unten).
Spezialbetreuung
Clemens Hausmann gehört zu jenem Team des Berufsverbandes der Österreichischen PsychologInnen (BÖP), das neben anderen Organisationen an Ort und Stelle in Kaprun psychologische Betreuung anbot. Allerdings eine von besonderer Qualität.
,,Wir konnten als NotfallpsychologInnen unser ganz spezielles Expertenwissen einbringen. Das ist ein Spezialwissen, das man sich als Zusatzqualifikation erwirbt, und mit dem man den Betroffenen eines solchen Unglücks ganz gezielt und am besten helfen kann", so Verena Greimel, die mit Clemens Hausmann gemeinsam den Notfallpsychologischen Dienst des BÖP, Landesstelle Salzburg, leitet.
Um für die Zukunft noch besser gerüstet zu sein, arbeitete der BÖP Österreich kürzlich verbindliche weiterführende Ausbildungsrichtlinien für NotfallpsychologInnen mit 500 Ausbildungs- und Übungseinheiten aus.
Diese sehen auch eine Schulung vor, die in Salzburg auf Initiative des Katastrophenschutzes und des Roten Kreuzes schon praktiziert wird: Die Zusammenarbeit und Ergänzung mit anderen bei derartigen Großschadensfällen tätigen Einsatzgruppen.
Das Land Salzburg ist bestrebt, den Katastrophenschutz durch die Einbindung von NotfallpsychologInnen zu optimieren. ,,Wir betreiben und finanzieren deshalb in einem Lehrgang jene Ausbildungsteile für NotfallpsychologInnen, die in Zusammenhang mit unserem System des umfassenden Katastrophenschutzes stehen", erklärt Peter Schuster, Leiter des zuständigen Referates. Dabei geht es auch um die Zusammenarbeit mit dem Roten Kreuz, Bundesheer, Seelsorgern etc.
Die Möglichkeiten perfekter Zusammenarbeit werden nicht nur in Seminaren theoretisch ausgelotet, sie werden auch in Großübungen erprobt. Im Sommer fand zu diesem Zweck ein Übungseinsatz statt, Annahme: Ein Zugunglück in Hüttau, mit 35 Verletzten. Im Einsatz: Neben Rotem Kreuz, Feuerwehr etc. auch vier NotfallpsychologInnen. Clemens Hausmann war damals deren Leiter. Nur wenige Wochen später dann der Ernstfall, dessen Ausmaß die ganze Welt erschütterte.
Nur erwünschte Hilfe . . .
Es ist kein Zynismus, wenn Hausmann und Greimel heute meinen, sie und ihr Team - um die 25 KollegInnen - seien optimal vorbereitet nach Kaprun gekommen, wo sie als Teil des Kriseninterventionsteams Akuthilfe an Ort und Stelle leisteten, erste Hilfe für die Seelen vieler durch die Wucht des Unglücks schwer geschockter Menschen.
Allerdings, so Verena Greimel: ,,Als NotfallpsychologInnen wissen wir, dass wir nach dem Prinzip der minimalen Intervention vorgehen müssen." Also nur Hilfe anbieten, wo auch Bedarf danach da ist, auf keinen Fall alle prophylaktisch psychologisieren. ,,Manche Menschen werden alleine mit dem Schrecken fertig. Ihnen psychologische Hilfe quasi mit Gewalt aufzudrängen, würde sie künstlich traumatisieren. Sie glauben dann, Symptome haben zu müssen", erklärt die Spezialistin. Also Hände weg von ihnen. Dieses Prinzip gelte für das BÖP-Team auch in der jetzt laufenden Phase der Nachbetreuung, in der man klar definierte Teilbereiche übernommen hat, grenzt Verena Greimel sich und ihre KollegInnen von kontraproduktiven ,,Helfern" ab.
Solche sind im Gefolge der Kaprun-Tragödie leider auch aktiv, bedauert Rettungschef Gerhard Huber. Beim Roten Kreuz seien Beschwerden eingelangt, dass sich einige Kaprun-Betroffene von unerwünschten Hilfsangeboten für die Seele fast schon belästigt fühlen. In vielen Fällen, nämlich dann, wenn Menschen die Symptome der schon angesprochenen Posttraumatischen Belastungsstörung zeigen, ist psychologische Nachbetreuung zur Vermeidung von möglichen Langzeitfolgen aber dringend notwendig.
Stress-Reaktionen
,,Es können nach einem solchen Unglück, wenn scheinbar schon alles vorbei ist, verschiedenste Stressreaktionen auftreten. Albträume, dauernde Gereiztheit, quälende Schuldgefühle, Flashbacks, Wut und Zorn, Entfremdungserlebnisse, wo man meint, neben sich zu stehen. Es ist ungeheuer belastend und verstörend, wenn man das durchmacht, und viele Traumatisierte fürchten in diesem emotionalen Wirrwarr um ihren Verstand. Deshalb muss man ihnen sagen, dass dieses Gefühlschaos eine ganz normale Reaktion von ganz normalen Menschen auf eine nicht normale Situation ist", erklärt Notfallpsychologin Karoline Hochreiter ihre vorerst zentrale Aufgabe. Am besten lasse sich diese in strukturierten Gruppengesprächen durch das sogenannte Debriefing erfüllen. ,,Die Menschen erkennen, dass es anderen genauso geht und sie nicht ,abnormal' reagieren. Das entlastet ungemein."
Auch zu Weihnachten da
Wenn man sie rufen sollte, werden NotfallpsychologInnen des BÖP auch für die kritische Zeit um Weihnachten und später dann für Trauerseminare zur Verfügung stehen. ,,Trauerarbeit in dieser erweiterten Form ist erst in rund einem halben Jahr sinnvoll", erläutert Karoline Hochreiter. Sie ist darauf spezialisiert, begleitet Trauernde beim Durchgehen des Schmerzes, durch die Zeit, wenn sie die ersten Geburtstage, Feiertage ohne die verlorenen Liebsten erleben müssen. Sie ist solange Stütze, ,,bis der Trauerschmerz ein merkliches Stück nachlässt. Bei den Opferangehörigen von Kaprun wird es bestimmt länger dauern, denn der Schmerz hat durch die schrecklichen Umstände eine andere, härtere Qualität." Allein die lange Ungewissheit, ob ihre Verwandten tatsächlich unter den Toten sind, und die Tatsache, dass die Verunglückten gleichsam spurlos in einem Tunnel für immer verschwanden, nicht mehr durch Anschauen zu identifizieren waren, macht es den Menschen so schwer, den Tod ihrer Angehörigen zu bewältigen.
Freunde als Helfer
Hochreiter ist überzeugt, dass auch Freunde und Bekannte dabei helfen können. Einfach dasein und zuhören oder gemeinsam schweigen, mit Kleinigkeiten wie mitgebrachten Blumen oder einem ausgesuchten Psalm Zeichen des Mitfühlens setzen, erscheinen ihr als die richtigen Mittel. ,,Trauernde registrieren das. Und es tut ihnen auch gut, wenn sie Angebote wie ,Wenn Du mich brauchst, rufe mich an' bekommen. Aber ich weiß aus Erfahrung, dass sie in der ersten Phase ihrer Trauer kaum Gebrauch davon machen. Da müssen schon die Freunde und Bekannten den ersten aktiven Schritt wagen."