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"Es ist eine Überwindung, man fängt bei null an." Zu Besuch in einem Grundbildungskurs - in dem Erwachsene lesen und schreiben lernen.
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"Ich Leben schön. Der Frühling ist wach." Roswitha schreibt mit Bleistift Worte in ihren linierten Collegeblock. Worte, die sie nun nicht mehr nur denken und sagen kann, sondern auch schreiben - und lesen. Roswitha ist 48 Jahre alt und geht in die Schule. Jeden Mittwochabend lernt sie in der Linzer Volkshochschule gemeinsam mit anderen Erwachsenen lesen und schreiben, mittlerweile im vierten Jahr. "Am Anfang habe ich mich geschämt, dass ich nicht lesen und schreiben kann. Aber jetzt trau ich es mir zu sagen, es ist keine Schande", sagt sie stolz und erzählt, dass sie gerade auch ihren Führerschein gemacht hat.
Laut Unesco-Schätzungen leben in Österreich 300.000 bis 600.000 Menschen, die Probleme mit dem Lesen und Schreiben haben. Diese funktionalen Analphabeten haben Schwierigkeiten, Briefe oder die Zeitung zu lesen, Gebrauchsanleitungen, Beipackzettel, Arbeitsanweisungen oder Warnhinweise zu verstehen, Formulare oder Anträge von Behörden auszufüllen. Viele Erwachsene können nicht mehr als ihren Namen schreiben. Andere können zwar schreiben, ihre Texte stecken aber voller Fehler. Ihre Zahl ist auch deshalb so ungenau, weil Lese- und Schreibschwächen noch immer ein großes Tabu sind. Die Dunkelziffer ist groß. Es sind verhältnismäßig wenige, die den Weg in einen Grundbildungskurs schaffen: Viele Hürden - die Scheu, sich zu outen, Versagensängste, aber auch große Entfernungen, die etwa Menschen vom Land in die Kurszentren in den Städten zurücklegen müssten - halten oft jahrelang davon ab, das Problem in Angriff zu nehmen.
"Wenn man einmal da ist, dann hat man es geschafft", sagt der 44-jährige Rainer. Er legt seit vier Jahren jede Woche 100 Kilometer zurück, um am Grundbildungskurs teilzunehmen. Sein Werdegang gehört zu den Erfolgsgeschichten des Kurses: Während er früher auch wegen seiner mangelnden Lese- und Schreibkenntnisse als Lkw-Fahrer gearbeitet hat, hat er sich mit einem Unternehmen für erneuerbare Energie nun erfolgreich selbständig gemacht. Geholfen hat neben den neuen Schreibkenntnissen auch das Selbstbewusstsein, das er dadurch gewonnen hat. Seine Geschichte klingt abenteuerlich - und auch symptomatisch für viele Geschichten funktionaler Analphabeten.
Es ist nie zu spät. "Schon in der ersten Klasse Volksschule habe ich Probleme gehabt - Legasthenie - bei mir hätte man etwas machen müssen." Der Lehrer aber meinte, Rainer kapiere es nicht und schickte ihn in die hintere Reihe zum Zeichnen. "Der hat gesagt, du brauchst heute gar nicht in die Schule kommen, weil wir ein Diktat haben. Wenn das heute ein Lehrer macht, ist das ja grob fahrlässig." Die Eltern vertrauten dem Lehrer blind, erzählt Rainer: "Damals hat der Lehrer noch eine andere Macht gehabt. Heute konfrontiert man ihn, der wird ausgewechselt oder die Kinder werden aus der Schule genommen. Vor 30 Jahren hast Du dich nicht aufgebäumt gegen den Lehrer, das waren der Pfarrer und der Lehrer, die was zum Sagen gehabt haben am Land."
Bei seinen eigenen drei Kindern macht Rainer alles anders: "Da bin ich hypersensibel, aber sie lernen super, der Große kommt nächstes Jahr ins Gymnasium. Ich bin zwar keine Koryphäe, aber ich schaue mir immer die Hefte der Kinder an. Sie gehen sehr gerne in die Schule und das freut mich so, weil ich alles andere mitgemacht habe. Ich muss auch für die Schule zahlen, aber das ist die beste Investition, die ich ihnen mitgeben kann - nicht ein Haus oder ein Sparbuch, sondern lernen! Das ist das höchste Gut, das man haben kann für die Zukunft, das kann Dir keiner nehmen."
Rainer selbst machte insgesamt sechs Jahre Grundschule und kam später als Hilfsarbeiter zu einem Tischler. Sein großes Ziel war der Führerschein, den er sich regelrecht erkämpfte. "Ich habe fast nicht schreiben können und nur wenig lesen. Den Führerschein wollte ich unbedingt machen, also habe ich viel auswendig gelernt." Er brachte sich so selbst ein wenig Lesen bei, das Schreiben blieb die große Schwäche. Als Rainer einmal im Winter drei Monate ohne Arbeit war, verzichtete er auf das Arbeitslosengeld: "Ich wollte beim AMS nicht zugeben, dass ich das Formular nicht ausfüllen kann." In seinem späteren Beruf als Lkw-Fahrer waren die Lieferscheine, die er beim Kunden schreiben musste, das Problem - dafür legte er sich Tricks zu und nahm etwa immer ein Telefonbuch mit, um die richtige Adresse abzuschreiben.
"Über die Kreativität, die man an den Tag legt, damit man nicht schreiben muss, könnte man ein Buch schreiben", sagt Rainer: "Das ist aber psychisch schon eine Belastung, weil man schon in der Nacht nicht schlafen kann, wenn eine Situation bevorsteht, in der man schreiben muss. Wo sich der andere noch einmal im Bett umdreht, schwitzt man selber schon und steht auf." Er kennt ähnliche Geschichten von Leidensgenossen, die dann auch in Isolation enden: "Die Firma rüstet um auf Computer, dann wird einer krank. Er hätte sogar befördert werden sollen, aber er meldet sich nicht mehr, damit sie ihn rausschmeißen, weil er im Computer etwas eingeben hätte müssen." Auch Rainers Umfeld weiß bis heute nichts von den Problemen, die er mit dem Lesen und Schreiben hatte - seiner Ehefrau hat er erst vor einem Jahr davon erzählt. Er schaffte über den Grundbildungskurs im Linzer Wissensturm aber den Weg aus der Schriftlosigkeit. "Man kann es sich als Schreibender gar nicht vorstellen, es ist eine Überwindung, man fängt bei null an."
Mit ihm lernen hier etwa zehn Erwachsene auf unterschiedlichem Niveau das Lesen und Schreiben. Wie die modische Sekretärin, die zwar schreiben kann, aber viele Fehler macht und sich bei der Grammatik unsicher ist: "Bei Teambesprechungen habe ich Protokoll führen müssen und bin dabei regelmäßig ins Schwitzen gekommen." Sie übt vor allem die Rechtschreibung, die meisten anderen mussten bei null beginnen. Wie die 39-jährige Elisabeth, die in einer betreuten Wohneinrichtung wohnt: "Ich habe früher nur meinen Namen schreiben können, sonst nix. Jetzt kann ich Schreibschrift." Sie betont immer wieder, wie stolz sie auf das Geleistete ist, und hat noch viele Ziele: "Ich möchte mein Internet und meine Post lesen und mit Geld umgehen können." Daniela ist erst 24 Jahre alt und nach vielen Schulwechseln 2004 im Grundbildungskurs gelandet: "Ich tu mir mit dem Lesen schwer." Sie liest im Kurs gerade einen Zeitungsartikel, "daheim lerne ich auch viel und schreibe Sätze."
"Wer oder was bewacht das Haus? Der Hund bewacht das Haus", schreibt der 43-jährige Konrad in schöner Schreibschrift. Noch vor drei Jahren konnte der Facharbeiter nur seinen Namen schreiben. Er wuchs am Land auf und hatte eine schwere Kindheit, erzählt er: "Der Religionslehrer hat zu mir gesagt, du bist ein Trottel und wirst immer ein Trottel bleiben." Seine Schreibschwäche stellte ihn immer wieder vor berufliche Hürden: Er wollte mit dem Bundesheer auf Auslandseinsätze und schaffte die nötigen Schritte nur mit Hilfe von Freunden. Kollegen waren es auch, die ihm beim Ausfüllen der Aufnahmeprüfung bei den ÖBB oder beim Kranführerschein halfen. Konrad geht mit seinem Problem sehr offen um und ließ sich auch einmal für einen TV-Beitrag interviewen. Wie sein Umfeld darauf reagiert hat? "Meine Kollegen haben gesagt: Hut ab, dass du dich traust zu sagen, dass du lesen und schreiben lernst." Die Kellnerin in seinem Stammgasthaus übt nun jeden Sonntag mit ihm lesen, seine Cousine schenkte ihm kürzlich ein Buch über Konrad Lorenz und die Graugänse: "Ich bin ein Viechernarr, und wenn man dann weiß, worum es da geht, dann liest man gern. Früher sind der Fernseher und Videorecorder immer gelaufen, jetzt lese oder schreibe ich, statt dass ich fernsehe." Sein Ziel ist der Hauptschulabschluss - und eine Partnerin: "Weil find´ einmal die Richtige, wenn Du nicht lesen und schreiben kannst!"
Grundbildungskurse.
Seit 1995 veranstaltet die Volkshochschule Linz Grundbildungskurse, nach fünf Teilnehmern im ersten Jahr sind es heute 140 Menschen, die in den Kursen für
Lesen, Schreiben und Rechnen betreut werden. In Wien ist es die VHS Floridsdorf, die Basisbildung anbietet, in Salzburg der Verein abc Salzburg, in den übrigen Landeshauptstädten meist die Volkshochschulen.
Alfa-Telefon.
Die österreichweit kostenlose Beratungshotline Alfa-Telefon gibt unter
0810/200 810 anonym eine individuelle Erstberatung und Informationen über Lernangebot und Alphabetisierung.
www.alphabetisierung.at
Buch- und Filmtipps.
"Der Vorleser", 2008, mit Kate Winslet
und David Kross, Regie: Stephen Daldry, nach dem gleichnamigen Roman von
Bernhard Schlink
"Precious - Das Leben ist kostbar", 2009, mit Gabourey Sidibe und Mo´Nique,
Regie: Lee Daniels, nach dem Roman "Push" von Sapphire