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Wenn ein Flüchtlingscamp zur Stadt wird

Von WZ-Korrespondent Andreas Hackl

Politik

Im zweitgrößten Flüchtlingslager der Welt, dem Zaatari-Camp in Jordanien, wird humanitäre Hilfe immer mehr zu Politik.


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Amman. "Es ist ruhig geworden", sagt Kilian Kleinschmidt im Basiscamp des zweitgrößten Flüchtlingslagers der Welt, dem Zaatari-Camp in Jordanien. Es ist mit 120.000 registrierten Bewohnern die fünftgrößte Ansiedlung im Land. Und Kleinschmidt ist ihr Bürgermeister. Für das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, dem UNHCR, soll er hier Ordnung und Stabilität schaffen.

Weit mehr als 500.000 syrische Flüchtlinge sind laut Schätzungen der jordanischen Regierung seit März 2011 nach Jordanien geflohen. Anfang April strömten noch 2000 Flüchtlinge am Tag aus Syrien über die Grenze. Heute sind es nur mehr zwischen 50 und 100. "Am Anfang hatten wir keine Ahnung, wer hier wer ist", sagt er. "Es gab Schlägereien und Proteste." Doch jetzt denke man über Politik und Verwaltung nach, über ein Stromnetz und über öffentliche Verkehrsmittel. "Im Endeffekt ist hier eine Stadt im Entstehen."

Im sogenannten Basislager zwischen den Bürocontainern der humanitären Organisationen verschränkt Kleinschmidt die Arme hinter dem Kopf und lehnt sich entspannt im Sessel zurück. Er ist die sprichwörtliche Ruhe in Person. Als Ausdruck des neuen Gleichgewichts hat er sich sogar einen kleinen Brunnen auf das Kunstgras zwischen den Containern gestellt, an dem das Wasser gemächlich hinunterplätschert. Kleinschmidt stellt sich aufs Bleiben ein. So wie auch viele der Flüchtlinge im Lager.

Manche haben sich in den letzten Monaten regelrechte Villen aus Containern gebaut. In dem Meer aus Zelten, das die raue Wüstenlandschaft überzieht, schießen mittlerweile 18.000 Wohncontainer hervor. Ein Flüchtling habe sogar ein kleines Schwimmbad aufgemacht, zu dem er Eintritt verlangt, sagt Kleinschmidt. Auch in der Sham-Élysées, der nach Al-Sham ("Syrien") und der Pariser Prunkmeile Champs-Élysées benannten Einkaufsstraße, entsteht ein regelrechtes Handelszentrum. An kleinen Verkaufsständen entlang der staubigen Straße werden Hilfsgüter, Lebensmittel und Kleider verkauft. Dazwischen Kaffeehütten und kleine Imbissbuden. Sogar Einkaufszentren gibt es, erklärt der junge Syrer Qasem stolz vor einer Baustelle. Aus Containerteilen baut er hier ein Lebensmittelgeschäft, in dem aus Syrien importierte Waren verkauft werden sollen. Solange dort Machthaber Bashar al-Assad weiterregiert, gibt es für die Menschen hier kein Zurück, sagt er. Deshalb solle man besser investieren, anstatt die Zeit totzusitzen.

Investieren können aber nur jene, die Kapital haben. Manche sind mit Bargeld aus Syrien gekommen, andere beziehen Geld von Verwandten in Jordanien oder von zu Hause. Auch durch Spenden der Wohltätigkeitsorganisationen fließt Geld in das Camp. Von humanitären Organisationen wie dem UNO-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) erhalten die Flüchtlinge Lebensmittel, Wasser, Schulbildung und Infrastruktur. Wem das Leben im einfachen Zelt mit der täglichen Ration Linsen zu wenig ist, hat hier nur wenige Alternativen. Einen Ausweg bietet die informelle Ökonomie, von Kleinschmidt auch "Kriminalität" genannt: Große Mengen an Hilfsgütern wie Zelten, Nahrung, und sogar Containern, die aus dem Lager geschmuggelt werden. Über Nacht werden Gemeinschaftstoiletten abgebaut. Sogar eine Polizeistation war eines Morgens verschwunden. Weil UNHCR nur Strom für die Straßenbeleuchtung zur Verfügung stellt, hat sich auch ein Geschäft der "Stromklauerei" entwickelt: Für ein paar hundert Euro schließen "Unternehmer" Geschäfte und Wohncontainer an das Stromnetz an. Gehandelt wird auch mit Amphetaminen. Und mit Frauen, die im Tausch für Geld oft für wenige Tage an wohlhabende Männer verheiratet werden, die sich kurz danach wieder von ihnen trennen.

In der Transformation von chaotischem Lager zur "Flüchtlingsstadt" wird jedoch ein ganz anderer Bereich zur größten Herausforderung für die humanitäre Verwaltung: Politik und Machtkampf. Für die syrische Flüchtlingsbevölkerung war es schon anfangs schwierig, der externen Kontrolle im Camp zu vertrauen. Viele flohen vor der schweren Unterdrückung durch das Regime von Bashar al-Assad. Traumatisiert von den Erfahrungen des Krieges kamen sie in Jordanien an. Auch mit der UNO verbinden viele eher Negatives, wie etwa Israels Besatzung der syrischen Golanhöhen, an deren Grenze Blauhelme stationiert sind.

Als Alternative zur Fremdregierung im Camp organisiert sich die Bevölkerung in Zaatari zusehends selbst. Sogenannte Straßenführer und Viertel-Chefs organisieren Arbeiter und lassen die Straßen von ihren Anhängern überwachen. Ein ehemaliger syrischer General will für die Sicherheit im ganzen Lager sorgen. Dazu mischen sich Schattenökonomie mit Stromklau und Schmuggel.

Komitees statt Straßenbosse

"Da hat sich eine eigene Führungsstruktur entwickelt", sagt Kleinschmidt. Das will er nun ändern. Das Lager soll in 12 Viertel mit je 10,000 Menschen eingeteilt werden. 1000 Kandidaten haben sich für eine neu geformte Nachbarschaftswache beworben. Davon werden bald 600 für die Lagerverwaltung die Straßen patrouillieren. "Sobald sich im Camp was entwickelt, wissen wir das. Wir haben den Finger am Puls", sagt Kleinschmidt. Die jeweiligen Viertel sollen von neu geschaffenen Komitees verwaltet werden. An ihrer Spitze "traditionelle syrische Autoritäten", sogenannte Sheikhs. "Die bringen Weisheit mit. Und sie müssen nicht rumbrüllen, um sich zu beweisen", sagt Kleinschmidt. Doch im Untergrund regt sich Widerstand.

Der Rebell im Viertel

Einer im Lager, der gerne rumbrüllt, ist Abu Hussein. Laut Kleinschmidt ist er "ein Revoluzzer mit der Kapazität, Leute umzubringen". Doch für viele im Camp ist er schlichtweg der Aqed, der "Oberstleutnant".

Abu Hussein, der aus der südwestsyrischen Region Daraa kommt, hat schon viele Journalisten empfangen. Der "Spiegel" nannte ihn im selben Atemzug mit dem Wort "Mafia". Nachdem er den Artikel von "Spiegel"-Reporter Takis Würger gelesen hat, soll er gesagt haben, "ich bringe Takis um. Und Kilian auch."

Mit Abu Hussein ist nicht zu scherzen. Und der 49-Jährige weiß, wie man sich als Herrscher inszeniert. Wo genau seine Macht liegt, ist nicht ganz klar. Manche sagen er schmuggelt, andere, er habe sich einfach Respekt verschafft. Vielleicht hat er auch einfach nur viel Geld.

Mit Frau und Kindern lebt er in einem kleinen Container-Anwesen in einer Seitenstraße der Sham-Élysées. Statt einem Garten bedecken hier Kunstgrasmatten den Wüstensand. Drinnen in der Metallhütte gibt es Fernseher und Klimaanlage. Neben dem Wohnzimmer ist ein traditioneller Empfangsraum, mit Teppichen und gemusterten Pölstern.

Das Auftreten von Abu Hussein scheint erst höflich und ruhig. Dabei ist er relativ klein, trägt ein gebügeltes Hemd und gepflegtes Haar. Wie fast alle Männer im Camp raucht er ständig. "Ich bin gegen alles, was hier im Lager schiefläuft", sagt Abu Hussein. Dann serviert seine Frau Essen. "Nichts davon ist von den Hilfsorganisationen", erklärt der Aqed. Denn von diesen hält er nichts. Im Lager habe man zwei Optionen: Entweder akzeptieren, was von den humanitären Organisationen aufgetischt wird. Oder: "aggressiv sein".

Wütend kritisiert er die Politik der UNO, beschwert sich darüber, dass seine Kinder schon monatelang in die Schule gehen, aber immer noch nicht ihren Namen schreiben können. Er habe sie alle getroffen, die hohen Tiere in der humanitären Verwaltung. "In die Tasche stecken" will er sich von ihrer Hilfe nichts. "Für mich zählt die Wahrheit", sagt er. Seine Wahrheit.

Wenn es im Lager nachts dunkel wird, geht Abu Hussein die Sham-Élysées entlang, wo dutzende junge Männer auf ihn warten. In Zweiergruppen schickt er sie in die Seitenstraßen seines Viertels, als "Schutz und Wache". Für die Überwachung von Gemeinschaftsküchen habe er Frauen ernannt, die dort für Ruhe sorgen und putzen, gegen Bezahlung. Außerdem bringe er seine Leute in die wenigen Jobs, die hier zur Verfügung stehen. Alle paar Wochen wechseln sich die Arbeiter ab. Wann wer zum Zug kommt, bestimme er.

Abu Hussein sagt, er sorge für die Sicherheit. "Meine Leute sind überall im Camp und sie wissen was passiert." Und was passiert, wenn jemand erwischt wird? "Ich habe meine eigenen Wege, damit umzugehen." Doch für Kilian Kleinschmidt ist Abu Hussein bereits am absteigenden Ast. "Wenn er sich richtig anstellt, wird er noch länger ein Führer bleiben. Wenn es schlecht läuft, wird er bald als Mafia-Boss verhaftet."

Das neue Verwaltungssystem soll Leuten wie Abu Hussein den Einfluss nehmen. Die Flüchtlinge sollen bald selbst über vieles entscheiden können, meint Kleinschmidt. "Politische Strukturen wie Räte sollen Dialog schaffen. Langsam aber sicher wollen wir die wahren Chefs aufbauen. Den Straßenführern wollen wir das Wasser abgraben."

Neue Organisationsstruktur

Außerdem sei ein umfassendes Privatisierungsprojekt geplant: Statt Stromklau soll es bald ein Stromnetz mit Kosten um die 10 Millionen US-Dollar geben; statt Hilfsgütern Chipkarten mit Guthaben, damit die Flüchtlinge selbst einkaufen können. Gemeinschaftstoiletten und -küchen sollen durch private ersetzt werden. Abwassersammlung und öffentliche Verkehrsmittel stehen ebenfalls am Horizont der Möglichkeiten. Lange genug hätten humanitäre Organisationen Flüchtlingslager 20, 30 Jahre hinweg gleich betreut, kritisiert Kleinschmidt. Er will das ändern und das Lager zur Stadt werden lassen. "Nur weil man Flüchtling ist, heißt das nicht, dass man die Dinge nicht selber machen kann."

Diesem Leitsatz würden die selbstgemachten Politiker im Lager sofort zustimmen. Doch die von Kleinschmidt unterstützten Sheikhs genießen in der Welt von Abu Hussein und anderen Straßenführern keinen Respekt.

"Ich bin von Beruf Lehrer", sagt Abu Hussein. "Würdest du mich anstellen, um dein Auto zu reparieren? Ich glaube nicht." Die Sheikhs in den neuen Komitees seien ihm fremd. "Ich sehe sie nicht in den Straßen des Camps. Hier müssen die richtigen Leute die richtigen Posten haben." Seine Leute. Das UNHCR vergleicht er sogar mit dem Regime in Syrien. "Wollen wir zurück zum arabischen System, in dem uns die Regierung von außen aufgezwungen wird?"

Abu Hussein ist vielleicht der einflussreichste Aqed im Lager, denn er beansprucht ein ganzes Viertel. Doch er ist nicht der
Einzige mit Machtanspruch. Eine politische Ebene weiter unten regeln sogenannte Straßenführer die Probleme des Alltags. Einer von ihnen ist Abu Asim.

Im offenen Wohnraum zwischen seinen zwei Containern schenkt er eine Tasse Tee ein. Dann reicht er bitteren Kaffee durch die Runde. "UNHCR muss die Finger von der Politik lassen", sagt der 47-Jährige. "Nur die Leute im Camp selbst sollten ihre Führer wählen."

"Dann schlägst du ihn"

Ende Mai dieses Jahres ist er aus seiner Heimatregion Daraa al-Sanamen geflüchtet, als die Angriffe der Truppen von Bashar al-Assad ein Massaker anrichteten. 106 Menschen seien getötet worden, sein eigenes Haus von einer Bombe zerstört. Bald nach seiner Ankunft habe er sich im Camp Respekt verschafft. "Weil ich die richtigen Entscheidungen treffe. Man muss Weisheit haben - und politisch stark sein."

Nur, was genau macht ein Straßenführer? Er löst Probleme, sagt Abu Asim. Egal, ob es um Wasser, sanitäre Einrichtungen oder Streitereien geht. Und wie löst man diese Probleme? "Das ist immer unterschiedlich. Aber wenn du den Schuldigen nicht mit Worten überzeugen kannst, dann schlägst du ihn."

Nach einer Weile kommt ein weiterer "Anführer" bei Abu Asim vorbei. Einer, der vielleicht ebenso viel Einfluss hat wie Abu Hussein. Auch er will seinen vollen Namen nicht preisgeben, nennt sich deshalb nur beim traditionellen Namen als Vater seines ältesten Sohnes: Abu Salem.

Der Körper des 56-Jährigen wirkt mächtig und schwermütig. Sein Blick ist ernst, doch immer wieder kommt ihm ein Grinsen aus und ein silberner Zahn sticht hervor. Früher sei er General bei der syrischen Armee gewesen. Dann habe er sich der Freien Syrischen Armee (FSA) angeschlossen und ist gegen Assad in den Krieg gezogen. Was genau er gemacht hat, will er nicht sagen. Wichtig sei das, was er jetzt macht: 400 Männer im Camp stünden unter seinem Kommando. Als Schnittstelle zwischen der Flüchtlingsbevölkerung im Lager und der jordanischen Polizei sorge er für Stabilität und Sicherheit.

Drohungen gegen die UNO

Dem Camp prophezeit er eine "Explosion", sollte Kilian Kleinschmidt seinen Plan durchziehen. "Kilian wird bald sehen, was die Reaktion auf seine neuen Komitees ist", sagt Abu Salim. Auch er hält nichts von den Sheikhs, die bald Teil der neuen Führungsstruktur im Lager werden sollen. Auch der vom UNHCR vorangetriebenen Nachbarschaftswache traut Abu Salem nicht. "Ihnen wurden Gehälter versprochen. Sobald sie diese Gehälter bekommen, sind sie gekaufte Leute. Leute, die nicht für die Gemeinschaft arbeiten. Ihr Job wird es sein, zu überwachen."

Die Männer mit Führungstitel im Lager Zaatari wollen eigentlich alle dasselbe: dass die Dinge so laufen, wie sie selbst es sich vorstellen, zum Zweck von "Stabilität und Sicherheit." Doch obwohl alle scheinbar dasselbe wollen, könnte die Politisierung der humanitären Verwaltung im Lager zu neuen Konfliktlinien führen, wenn auch nicht zu einer "Explosion".

Zurück im humanitären Basislager neben dem plätschernden Brunnen erscheint die von Kilian Kleinschmidt prophezeite Ruhe mehr als real. Erst am Vortag sei er nachts ins Lager spaziert, habe in einem Restaurant gegessen, und hat dann in der "Villa" heiße Schokolade getrunken. "Wir waren bis ein Uhr morgens unterwegs."

Um das Flüchtlingscamp an der Grenze zu Syrien wirklich zu verstehen, muss man vermutlich dort leben. Kilian Kleinschmidt ist höchstwahrscheinlich der richtige Mann für den Job des Bürgermeisters von Zaatari. Aber wie Abu Hussein sagt: "Politik ist wie das Meer, es gibt Haie, und es gibt Wale."