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Wenn ein Konflikt implodiert

Von WZ-Korrespondent Andreas Hackl

Analysen

Israels einzige Strategie im Nahost-Konflikt ist das Wiederherstellen von kurzlebiger Stabilität.


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Tel Aviv. "Rache? Natürlich habe ich Rachegefühle", meinte General Atif Hilles vor einem Monat im Hauptquartier der Palästinensischen Sicherheitskräfte in Ramallah. Im August 2008 tötete die Hamas 13 seiner Familienmitglieder, woraufhin er mit 130 anderen über Israel ins Westjordanland flüchtete. Trotzdem habe er auf "Versöhnung" mit der Hamas gehofft, die zu dieser Zeit nach der Bildung einer Übergangsregierung so greifbar wie nie schien.

Vier Tage später werden drei junge Israelis entführt und letztendlich tot aufgefunden. Aus der Suchaktion wird die größte israelische Militäroperation gegen die Hamas seit der zweiten Intifada vor mehr als zehn Jahren. General Hilles und die Sicherheitskräfte der Palästinensischen Autonomiebehörde kooperierten dabei. Nachdem Präsident Mahmoud Abbas von vielen jungen Palästinensern "Verräter" geschimpft wird, rechtfertigt er die Zusammenarbeit mit Israel mit den Worten: "Wir wollen nicht zu Chaos und Zerstörung zurückkehren."

Und doch scheint genau das passiert zu sein. Nach wütenden Racheprotesten rechter Israelis wurde eine weitere Leiche geborgen, ein 16-jähriger Palästinenser aus Ostjerusalem, der in der Nacht auf Mittwoch verschleppt wurde und offenbar einem israelischen Rachemord zum Opfer fiel. Die palästinensische Jugend in Ostjerusalem kochte vor Wut; es kam zu Ausschreitungen, die mit dem Begräbnis des 16-jährigen "Märtyrers" Freitagnachmittag ihren traurigen Höhepunkt erreichten. Mindestens 18 Palästinenser wurden dabei verletzt. Unterdessen "rächt" die Hamas im Gazastreifen den Märtyrer mit Raketenfeuer auf Südisrael, während die israelische Armee den Landstrich aus der Luft angreift und Truppen für eine mögliche Großoperation mobilisiert.

Zurück an den Start

Während die Region abermals unter Hochspannung steht, dreht sich alles um eine Frage: Wird die Gewalt weiter eskalieren? Es ist eine Frage, die sich in regelmäßigen Abständen wiederholt. Doch der Fokus auf die drohende Gewaltexplosion überschattet eine andere Realität, die sich in den jüngsten Entwicklungen besonders deutlich zeigt: die langsame Implosion unter der Oberfläche. Denn mit jeder weiteren Eskalation des Konflikts bricht die Basis für seine Lösung weiter ein, indem sich die Bruchlinien verschärfen und man nach bescheidenen Errungenschaften wieder am Ausgangspunkt angelangt ist.

Der über Jahre mühsam aufgebaute Versöhnungsprozess, in den General Atif Hilles trotz schwerwiegender Hürden ernst gemeinte Hoffnung setzte, scheint unrealistischer denn je. Dabei hatte die am 2. Juni gebildete Übergangsregierung jene Prinzipien anerkannt, die lange als Voraussetzung für ein Friedensabkommen gefordert wurden: Gewaltlosigkeit, Einhaltung früherer Abkommen sowie die Anerkennung Israels. Einen Monat und eine israelische Militäroperation später steckt die Hamas wieder im alten Grabenkampf fest, zum Leid der Bevölkerung: 1,7 Millionen Palästinenser leben hier auf engsten Raum mit täglichen Stromausfällen von bis zu 12 Stunden. Der einzige verfügbare Grenzübergang führt nach Ägypten. Doch laut UN-Berichten bleiben mehr als 10.000 Menschen, darunter Patienten mit Operationsterminen, wegen der restriktiven Grenzpolitik wochenlang auf den Wartelisten stecken. Nun implodiert Gaza ein Stück weiter.

Die Implosion der palästinensischen Gesellschaft unter Besatzung wird auch in Ostjerusalem deutlich, das de facto unter israelischer Kontrolle steht. Knapp 80 Prozent der 370.000 Palästinenser in Ostjerusalem leben unter der Armutsgrenze, Schulen sind überfüllt und die Zahl der Schulaussteiger liegt bei 40 Prozent. Somit sind die Bilder vermummter Jugendlicher, die mit Steinschleudern auf die israelische Polizei losgehen, auch Bilder einer perspektivlosen Jugend, die sich immer mehr in radikaler Opposition zu Israel positioniert. Und das angespannte Verhältnis verschärft sich mit jeder Eskalation weiter.

"Gush Etzion, nicht Toskana"

Doch auch Israel zahlt seinen Preis für den Status quo, auch wenn das gerne ignoriert wird. "Gush Etzion ist nicht die Toskana", rief ein israelischer Aktivist bei einer Demonstration gegen Rassismus in Tel Aviv. Gush Etzion ist das Siedlungsgebiet, in dem die drei jungen Israelis beim Autostoppen verschleppt wurden. Der Aktivist kritisierte damit die Normalisierung der Besatzung des Westjordanlandes in den Augen vieler Israelis. Die Regierung schüre den Irrglauben, dass der Status quo für Israel keinen Preis habe. Dieser Irrglaube wurde jenen drei Ermordeten zum Verhängnis.

Drei Tage nach ihrem Begräbnis kleben immer noch Werbeflächen mit der Aufschrift "Bring Back Our Boys" auf Autobussen in Tel Aviv. Diese breit unterstützte Kampagne hatte die israelische Armee übernommen und als emotionale Rückendeckung für die laufende Militäroperation instrumentalisiert. Wenn ein Konflikt eskaliert, wird die Frage nach Ursachen schnell vom Bedürfnis nach Vergeltung überdeckt. Und die langwierige Abwendung der stetig voranschreitenden Implosion wird durch die unmittelbare Notwendigkeit einer Waffenruhe verdrängt. Nur solange die einzige Antwort das Wiederherstellen von kurzlebiger Stabilität bleibt, wird auch die nächste Eskalation nicht lange auf sich warten lassen. Auf einen Schritt nach vorne folgen zwei zurück.