Gehirnforscher Manfred Spitzer über ein Phänomen unserer Zeit.
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Wien. "Stellen Sie sich vor, es gäbe eine Krankheit, die hierzulande immer häufiger auftritt und chronische Schmerzen verursacht - eine ansteckende, von der medizinischen Wissenschaft noch kaum erforschte Krankheit, die sich schneller ausbreitet, als die Immunität gegen sie aufgebaut werden kann, und die als eine der häufigsten Todesursachen in der zivilisierten westlichen Welt eingestuft wird. Eine Krankheit, die das Aufkommen anderer Leiden begünstigt, von Erkältungen über Depressionen und Demenz bis hin zu Herzinfarkten, Schlaganfällen und Krebs. Diese Krankheit wäre mithin ein bedeutender Risikofaktor für andere häufige und tödliche Krankheiten. Zugleich wäre sie tückisch, denn viele Betroffene wüssten gar nicht, dass sie an ihr leiden. Diese Krankheit gibt es tatsächlich. Ihr Name: Einsamkeit."
In seiner jüngsten Neuerscheinung "Einsamkeit - die unerkannte Krankheit" befindet sich der deutsche Hirnforscher Manfred Spitzer einem Phänomen auf der Spur, das in unserer heutigen Welt immer mehr um sich zu greifen droht. Wenn man näher hinsieht, wirkt es auch gar nicht so abwegig.
Wider die Natur
Doch zuerst einen Schritt zurück: Der Mensch ist ein Herdentier. Demzufolge leben die meisten unserer Spezies viel lieber in Gesellschaft als alleine. Unter unsereins fühlen wir uns wohl. Und immerhin verbringen wir etwa 80 Prozent unserer wachen Zeit zusammen mit anderen Artgenossen. Verantwortlich für dieses großteils unbewusste Bedürfnis nach sozialem Anschluss ist der Hirnstamm. In dieser Region sind vor allem Reflexe und automatisch ablaufende Vorgänge wie die Atmung oder Verdauung verankert.
Doch heute handeln wir, wie in so vielen anderen Dingen, auch hier ganz offensichtlich wider die Natur. So ist seit Jahren ein Trend hin zu einem Leben im Singular zu beobachten. Das beginnt bei der Industrie und endet bei der Kindererziehung. Nahrungsmittel werden im Supermarkt in immer kleineren Packungen angeboten, weil vermehrt Einzelpersonen für sich kochen und alleine essen. Im Wohnungsbau wird miniaturisiert und die Wirtshäuser sind auch nicht mehr so voll wie früher. "Heute setzt man sich eher - meist alleine - vor den Fernseher oder PC", schildert Spitzer.
Und ob sie es wollen oder nicht, würden auch die Eltern mit ihrem Erziehungsstil den Nährboden für die Entwicklung von Einsamkeit geradezu vorbereiten. "Wir erziehen unsere Kinder in geringerem Maß als früher zu Gemeinschaftswesen, sondern trainieren ihnen überbordende Selbstbezogenheit an. Gemeinsame Aktivitäten in der Familie sind rar geworden. Und was immer Kinder tun, sie sind die Größten und bekommen dies auch permanent gesagt." Das bleibt nicht ohne Folgen. Die Kinder würden regelrecht zum Narzissmus gedrängt. Das spiegelt sich auch in der Flut von Selfies wider, die Jugendliche täglich im Internet versenden. Das mit Abstand am häufigsten fotografierte Motiv von Kindern und Jugendlichen: sie selbst. Dabei handelt es sich um eine Größenordnung von rund 68 Prozent der abgelichteten Motive.
Auswege aus der Falle
Der ersehnte Ausweg aus der Falle scheint auch gleich das World Wide Web zu sein. Von vielen wird dieses als die Technik gegen Einsamkeit gesehen. Weltweit verbringen zwei Milliarden Menschen täglich Millionen von Stunden auf Facebook. Sie nutzen dieses soziale Onlinenetzwerk ganz offensichtlich, weil sie sich davon ein besseres soziales Leben versprechen. "Kommunikation, Verbundenheit und Gemeinschaft gehören schließlich zu den Hauptquellen menschlichen Wohlbefindens", so Spitzer. Erwiesen sei allerdings, dass die Nutzung sozialer Onlinemedien zu einer geringeren Lebenszufriedenheit führt.
Das Gefühl der Einsamkeit löst im Körper Stress aus. Und wenn wir spüren, dass wir keine Kontrolle über das Leben haben, leiden wir - genauso wie bei ständiger Überbelastung - unter chronischem Stress. Doch "die gleichen Veränderungen, die bei akutem Stress sinnvoll sind - das Hochregeln von Blutdruck, Blutzucker und Kreislauf, sowie das Abschalten von kurzfristig unwichtigen Körperfunktionen wie Wachstum, Verdauung, Immunabwehr - bewirken bei chronischem Stress Krankheiten". Damit steige durch Einsamkeit die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Bluthochdruck, Stoffwechselstörungen, Gefäßleiden sowie Schlafstörungen, Depression, Lungenkrankheiten und Infektionskrankheiten.
Auswege aus der Misere scheint es aber zu geben. Zum einen sind es Freunde zum Angreifen, die uns davor bewahren. In Studien zeigt sich auch, wie groß der Effekt sein kann. So ließe sich mit ein paar Freunden mehr die Einsamkeit immerhin um zehn Prozent senken, skizziert der Forscher. In erfüllenden Gemeinschaften gibt es ein Geben und Helfen, aber auch Tätigkeiten wie Musizieren, Singen und Tanzen, die die Kooperation befördern. "Alle Handlungen, die uns einander näher bringen, wirken gegen Einsamkeit", schreibt Spitzer.
Vermeidbares Risiko
Dass es sich bei der Entwicklung um kein heraufbeschworenes Problem handelt, zeigt auch eine Vorgehensweise in Großbritannien, wo einer Studie zufolge neun Millionen Menschen häufig von Einsamkeit betroffen sind. So wurde im Jänner die Staatssekretärin Tracey Crouch als Ministerin für Einsamkeit eingesetzt, um mit parteiübergreifenden Projekte die Entwicklung zu bremsen.
Und auch Spitzer fordert in seinem Buch die politisch Verantwortlichen zum Handeln auf. "Denn bei Einsamkeit und sozialer Isolation handelt es sich - wie bei allen anderen Risikofaktoren auch - um vermeidbare Risiken."
Wer allerdings nach einem arbeitsreichen Tag die Einsamkeit regelrecht sucht, sollte sich davor nicht scheuen. Der richtige Weg dorthin ist das Ziel. Wer Einsamkeit als erfüllend erleben möchte, soll diese aktiv suchen - und zwar in der freien Natur. Dort werden Grübeln, Angst und Stress verringert und das Alleinsein wird zum Heilmittel.
Sachbuch
Einsamkeit - die unerkannte
Krankheit
Manfred Spitzer, Verlag Droemer
320 Seiten, Euro 19,99