Kommission: "Interessenskonflikt ist Abwägungsfrage." | Keine Sanktionen bei Verstoß gegen Verhaltenskodex. | Brüssel. Als ehemaliger EU-Kommissar muss man sich scheinbar keine Sorgen machen, nachher auf lukrativen Posten in der Privatwirtschaft unterzukommen. Um Interessenskonflikte zu vermeiden, müssen Jobs nach dem Ausscheiden aus der Kommission zwar ein Jahr lang gemeldet und von einem Ethikkomitee geprüft werden. Bisher ist aber noch kein Fall einer abschlägigen Entscheidung bekannt. Sanktionen für Verletzungen dieses Verhaltenskodex für Kommissare gibt es in der Praxis ohnehin nicht.
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Jüngstes Beispiel für ein ausgefülltes Berufsleben nach der EU-Kommission ist Günter Verheugen, früher als Kommissar für Industriepolitik zuständig. Erst diese Woche wurde publik, dass er mit seiner früheren Kabinettchefin und angeblichen Geliebten Petra Erler bereits im April die Lobbying-Agentur "The European Experience Company GmbH" mit Fokus auf europapolitische Angelegenheiten gegründet hat. Der frühere Kommissar hat nämlich davon abgesehen, die Agentur gemäß dem Verhaltenskodex bei der Kommission zu melden und diesen Schritt erst gestern, Mittwoch, nachgeholt, wie Kommissionssprecher Olivier Bailly bestätigte.
Konsequenzen muss Verheugen deshalb aber nicht befürchten. Schließlich bedeute der Verhaltenskodex auch für das erste Jahr nach dem Ende des EU-Dienstes kein Berufsverbot, hieß es in Kommissionskreisen - auch nicht in jenem Bereich, für den der Kommissar davor direkt zuständig war. Denn ob er "bei der Annahme gewisser Tätigkeiten" nach Ablauf seines Mandats "ehrenhaft und zurückhaltend" ist, wie der EU-Vertrag vorschreibt, sei eine "Abwägungsfrage" und werde in jedem Einzelfall - üblicherweise vorab - geprüft. Konkrete Interessenskonflikte müssten ausgeschlossen werden - nicht zulässig sei etwa der Wechsel des Wettbewerbskommissars zu einem Unternehmen, gegen das er vorher wegen Kartellverdacht ermittelt habe. Sanktionen wie die Kürzung der Pensionsansprüche seien ein "akademischer Extremfall".
Der dreiköpfigen Ethikkommission sitzt übrigens der frühere EU-Spitzenbeamte Michel Petite vor. Früher Leiter des juristischen Dienstes der EU-Kommission arbeitet er jetzt gleichzeitig als Berater für die weltweit tätige Anwaltskanzlei Clifford Chance. Verheugens Beratertätigkeiten für die Deutschen Volks- und Raiffeisenbanken, die Royal Bank of Scotland und andere hat das Komitee bereits im Juli genehmigt.
"Die bisherige Praxis ist eine Farce", empört sich Elmar Wigand von der NGO LobbyControl gegenüber der "Wiener Zeitung". "Vor einem Wechsel ins Lobbying fordern wir eine dreijährige Karenz für Kommissare und leitende EU-Beamte." Diese "nehmen schließlich tausende Kontakte und Telefonnummern mit, kennen die Verfahrensweisen und präparieren ihre neuen Auftraggeber so, dass diese ihr Ziel auch erreichen." Das führe zur Bevorzugung von finanzstarken Wirtschafts- und Interessensgruppen, so Wigand.
So wechselte etwa der Malteser Joe Borg als früherer Kommissar für Fischerei und maritime Angelegenheiten in die eben darauf spezialisierte Lobbying-Agentur Fipra. Ex-Binnenmarktkommissar Charlie McCreevy arbeitet heute für Ryanair, die ehemalige Außenkommissarin Benita Ferrero-Waldner ist Aufsichtsrätin bei der Münchner Rückversicherung.
"Solche Aufsichtsratsposten sind oft hoch vergütet", erinnert Wigand. Die Münchner Rück zahlte ihren Aufsichtsräten 2009 eine Basisvergütung von 50.000 Euro. Mit Zuschlägen für Mehrarbeit und Unternehmenserfolg kann es aber leicht mehr als das Doppelte werden.