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Wenn Geiz und Gier der Gemeinschaft schaden

Von Erich Kirchler

Gastkommentare
Erich Kirchler ist Professor für Wirtschaftspsychologie an der Universität Wien und Fellow am Institut für Höhere Studien (IHS). Sein Forschungsschwerpunkt sind Steuerpsychologie und Entscheidungen unter Unsicherheit.

Steuerbetrug und Sozialleistungsbetrug: Kavaliersdelikte oder gesellschaftliche Tabus? Die Bevölkerung bewertet sie unterschiedlich.


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Soziale Dilemmata sind Situationen, in denen die individuellen mit den kollektiven Interessen in Konflikt stehen: Wer seine Steuern nicht bezahlt oder Sozialleistungen missbräuchlich beansprucht, schadet der Gemeinschaft. Die Finanzierung von Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit der Bevölkerung und die staatliche Unterstützung zur Rettung der Wirtschaft sind bedroht.

Was aber treibt Menschen zur Optimierung ihres eigenen Nutzens auf Kosten der Allgemeinheit? Warum überschreiten Menschen die Grenzen des Gesetzes und riskieren Strafen? Aus klassisch ökonomischer Perspektive wägen Menschen die Vor- und Nachteile verfügbarer Alternativen ab und wählen jene mit dem höchsten Nutzen. Sind Kontrollen selten und Strafen gering, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass zur Steigerung des individuellen Nutzens auch illegal gehandelt wird.

Dass gesellschaftliche Normen darüber entscheiden, was allgemein als verwerflich angesehen wird, zeigen die Beispiele der Steuerhinterziehung beziehungsweise des Sozialleistungsbetrugs. Steuerhinterziehung bedeutet, der Gemeinschaft zu wenig zu geben. Sozialleistungsbetrug hingegen bedeutet, sich zu viel von den gemeinschaftlichen Ressourcen zu nehmen. Dementsprechend ist anzunehmen, dass Geiz zur Steuerhinterziehung antreibt und der Missbrauch der Sozialleistungen von Gier getrieben ist.

Im Jahr 2019 wurden in Österreich 2.255 Fälle von Sozialleistungsbetrug aufgedeckt, bei denen es um eine Gesamtsumme von 11,5 Millionen Euro ging. Der Verlust an Steuereinnahmen wurde hingegen auf 12,9 Milliarden Euro geschätzt. Konsequent wäre es also, Steuerbetrug gesellschaftlich stärker zu verurteilen als Sozialhilfebetrug. Eine Befragung deutscher und österreichischer Bürgerinnen und Bürger zu Beginn des heurigen Jahres kam jedoch zum gegenteiligen Ergebnis: Sozialleistungsbetrug wird als moralisch wesentlich verwerflicher beurteilt als Steuerbetrug. Steuerbetrug scheint von der Bevölkerung beinahe als Kavaliersdelikt betrachtet zu werden - ungeachtet dessen, dass dabei nicht nur ein "gesichtsloser Staat" um wichtige Einnahmen gebracht wird, sondern alle ehrlichen Mitbürgerinnen und Mitbürger betrogen werden. Die Zufriedenheit mit der Regierung scheint mit der Ablehnung von Betrug zu korrelieren: Mit zunehmender Zufriedenheit mit der Regierungsarbeit werden beide Betrugsarten deutlicher verurteilt.

Die Einsicht in die Notwendigkeit des Zusammenhalts und der Zusammenarbeit der Gesellschaft ist die Voraussetzung für eine erfolgreiche Bewältigung von Krisen. Das Streben nach Eigennutz schadet der Allgemeinheit und letztlich auch jedem Einzelnen, während Solidarität die Gesellschaft stärkt. Machtinstrumente können gezielt als Verhaltensregulator angewandt werden, um Betrug zu entdecken und Kooperation zu erzwingen. So kann illegales Handeln eingedämmt und zugleich Vertrauen gestärkt werden.

Veranstaltungstipp:

IHS-Webinar: Steuer- vs. Sozialbetrug - Ausuferung und Eindämmung, 16. November, 14 Uhr. Info und Teilnahmelink: www.ihs.ac.at/webinar-steuer-vs-sozialbetrug/