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Wenn Grasser die Medusa erblickt

Von Daniel Bischof

Das Buwog-Verfahren wird im geschichtsträchtigen und modernisierten Großen Schwurgerichtssaal über die Bühne gehen. Hier fand der Schattendorf-Prozess statt, die Nazis missbrauchten den Raum, um Gasmasken herzustellen.


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Wien. Sie haben alles erlebt. Angst und Mut. Trauer und Freude. Hass und Liebe. Verzweiflung und Hoffnung. Die ganze Palette der menschlichen Empfindungen: Die zwei Marmorbüsten im Großen Schwurgerichtssaal des Wiener Straflandesgerichts haben sie gesehen. Über der Richter- und Geschworenenbank, hoch oben auf der Galerie, thronen sie. Von hier aus blicken sie herab auf Verurteilte und Freigesprochene, auf Schuldige und Unschuldige.

Auch ab dem 12. Dezember werden die Büsten wieder etwas zu sehen haben. An diesem Tag startet die Hauptverhandlung im Buwog-Prozess. Er wird einer der aufsehenerregendsten Strafprozesse in der Geschichte der Zweiten Republik. Ex-Finanzminister Karl-Heinz Grasser und vierzehn weitere Personen sind angeklagt. Sie müssen sich vor einem Schöffensenat wegen des Vorwurfs der Untreue und Bestechung im Zusammenhang mit der Privatisierung der Bundeswohnungen und der Einmietung der Finanz in das Linzer Bürohaus Terminal Tower verantworten. Die Angeklagten bestreiten die Vorwürfe.

Der Buwog-Prozess ist in vielerlei Hinsicht spektakulär. Jahrelang war ermittelt worden, Enthüllung folgte auf Enthüllung, Spekulation auf Spekulation. Die Hauptverhandlung wird so bald kein Ende finden: Die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft hat in ihrer Anklageschrift die Einvernahme von 166 Zeugen beantragt. Bis zum 1. März 2018 sind bereits zahlreiche Verhandlungstermine ausgeschrieben.

Miserable Akustik

Aufgrund der großen Anzahl an Angeklagten und des enormen Medien- und Publikumsinteresses braucht man für den Buwog-Prozess auch einen entsprechenden Saal. Im örtlich für die Rechtssache zuständigen Wiener Straflandesgericht entschied man sich für den Großen Schwurgerichtssaal, den größten Gerichtssaal Österreichs. Im Rahmen einer öffentlichen, historischen Führung ist er zu besichtigen.

Für den Buwog-Prozess wurde der unter Denkmalschutz stehende Saal eigens modernisiert und umgebaut. Denn bisher war der Große Schwurgerichtssaal nicht nur für seine geschichtsträchtige Vergangenheit und imposante Architektur bekannt. Berüchtigt war er auch für seine miserable Akustik. Stimmen verhallten oftmals in den glatten Marmoroberflächen. Angeklagte, Richter, Dolmetscher und andere Prozessbeteiligte konnte man daher, wenn sie nicht laut und deutlich ins Mikrofon sprachen, nicht verstehen. Auch mit der Technik gab es Probleme.

"Ich höre nichts"

"Ich höre nichts", sagte im September 2016 ein Angeklagter bei einem Mordprozess, über den die "Wiener Zeitung" berichtete. Er konnte die Dolmetscherin nicht verstehen. Er nahm daher unmittelbar vor der Übersetzerin Platz - statt vor dem Zeugenpult. Auch die Geschworenen wandten mehrmals ein, nichts hören zu können. Zweifelhafte Zustände für einen modernen Rechtsstaat. Damit soll es nun allerdings vorbei sein.

"Der Raumklang ist jetzt sicher besser", sagt Friedrich Forsthuber, Präsident des Wiener Straflandesgerichts. Der geschichtsaffine Richter leitet die monatlich stattfindenden Führungen (siehe Infokasten). Man habe die Tonanlage modernisiert und etwa neue Lautsprecherboxen installiert, erklärt Forsthuber. Auch eine Klimaanlage gibt es jetzt.

Eine weitere Neuerung: Grasser und Co. werden nicht wie die Angeklagten vor ihnen auf den Bänken sitzen, die sich links und rechts vor dem Richtersenat befinden. Stattdessen werden sie den Richtern frontal gegenübersitzen. In den zwei neu errichteten Sitzreihen werden sie vor ihren Verteidigern Platz nehmen.

Stein und Ehrfurcht

Den Angeklagten im Buwog-Prozess wird - wenn sie nach oben auf die Decke blicken - in sechsfacher Ausfertigung das Haupt der Medusa entgegenstarren. Die aus der griechischen Mythologie stammende Figur ließ Männer bei ihrem Anblick bekanntlich zu Stein erstarren. Im Schwurgerichtsaal verewigte man die Frau mit den Schlangenhaaren, damit die Angeklagten symbolhaft "vor Ehrfurcht erstarren", erklärt Gerichtspräsident Forsthuber.

Gebaut wurde der 1873 bis 1876 errichtete Große Schwurgerichtsaal im Stil des Klassizismus - in Anlehnung an die Antike - errichtet. Das sieht man nicht nur anhand der Medusa, sondern auch an den stillvollen Säulen und Marmorbüsten. Die Büsten sollen zwei österreichische Kaiser darstellen. Einerseits Franz I., unter dem der Bau des Wiener Straflandesgerichts in Auftrag gegeben wurde. Andererseits Ferdinand I., unter dessen Herrschaft 1839 die Arbeiten ihr Ende fanden. Im Laufe der Jahre kamen Zubauten dazu - unter anderem der Große Schwurgerichtssaal.

In diesem fanden anfangs alle möglichen Prozesse statt. Denn damals war die Geschworenengerichtsbarkeit quantitativ wesentlich bedeutender als heute. "Man hat damals bei den Geschworenenverfahren schon bei der mittelschweren Kriminalität angesetzt, also etwa bei Raub, Sexualdelikten, aber auch schwerer Vermögenskriminalität bis hin zu Gefährdungsdelikten", so Forsthuber. 40 Prozent der Strafverfahren seien 1873 vor Geschworenengerichten geführt worden. Mit Reformen wurde deren Zahl zurückgedrängt. Heute findet nur noch rund ein Prozent der landesgerichtlichen Strafverfahren vor einem Geschworenengericht statt.

Zum Tode verurteilt

Im Laufe der Jahrhunderte hatten die Laien- und Berufsrichter in vielen prominenten Fällen zu urteilen. "1917 fand hier das Ausnahmeverfahren gegen Friedrich Adler, Sohn von Victor Adler, statt", so Forsthuber. Friedrich Adler hatte 1916 aus Protest gegen die Regierungspolitik im Ersten Weltkrieg den österreichischen Ministerpräsidenten Karl Stürgkh erschossen. Er wurde zum Tode verurteilt. Kaiser Karl I. begnadigte ihn zu 18 Jahren Kerker, 1918 wurde er amnestiert.

Zehn Jahre später, 1927, sollte ein hier gefälltes Urteil noch für viel Leid und Zerstörung führen. Ein Geschworenengericht sorgte mit einem Freispruch im Schattendorf-Prozess für Empörung. Im Jänner 1927 hatten Mitglieder der paramilitärischen Frontkämpfer eine sozialdemokratische Versammlung im burgenländischen Schattendorf beschossen. Ein siebenjähriger Bub und ein Mann starben im Kugelhagel.

Nach dem Urteil kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen. Am 15. Juli 1927 brannte der Justizpalast, die Polizei schoss in die Menge. 89 Menschen starben. Das vielfach gescholtene "Fehlurteil" wird von Juristen heutzutage differenzierter gesehen - ranghohe Juristen wie Forsthuber halten es für nachvollziehbar.

"Verachtung gegenüber Justiz"

Die Nationalsozialisten missbrauchten den Saal für ihre Zwecke. "Skurrilerweise sind die Nazis 1944 dazu übergegangen, den Schwurgerichtssaal zu devastieren und in eine Fabrik zur Erzeugung von Gasmasken umzufunktionieren", sagt Forsthuber. Historiker vermuten, dass dies "ein gewisses Zeichen der Verachtung gegenüber der Justiz" war. Im gleichen Saal sollte das Unrechts-Regime alsbald der Gerechtigkeit zugeführt werden. Notdürftig musste er nach Kriegsende zwar erst saniert werden. Bereits im August 1945 aber fand hier der erste Kriegsverbrecherprozess vor dem Volksgericht statt. Die Volksgerichte waren von 1945 bis 1955 eingerichtet worden, um Nazi-Kriegsverbrechen zu ahnden.

Mit der zunehmenden Abnahme an Geschworenenverfahren wurde der Gerichtssaal zuletzt vermehrt für Prozesse mit vielen Angeklagten oder spektakuläre Wirtschaftsstrafverfahren verwendet. So fanden etwa der Bawag-Prozess und das Verfahren gegen 90 angeklagte Rapid-Fans im Schwurgerichtssaal statt.

Auch das Urteil im Buwog-Prozess werden die Büsten der Kaiser vernehmen. Nachdem der Tross an Angeklagten, Anwälten und Zuschauern aus dem Saal gezogen ist, werden sie auf ihrem Platz bleiben. Über allen thronend, werden sie weiterhin mithören und beobachten. Die nächste Tragödie wartet schon.