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"Wenn ihr uns nicht wollt . . ."

Von Martyna Czarnowska

Europaarchiv

"WZ"-Reportage: Türken von Haltung der EU enttäuscht. | Annäherung an Union beschleunigte Reformprozess. | Ankara. Am frühen Abend bauen die Verkäufer ihre Stände auf. Wenn es nicht einfache Tische sind, dann reicht auch ein großes Tuch als Unterlage für die Ohrringe und Ketten, die Pullover, Schuhe oder Plastikspielsachen. Mit lauter Stimme preisen die Männer ihre Waren an, einige sind sogar mit einem Mikrofon ausgerüstet. Es herrscht noch viel Betrieb in den Straßen rund um den Kizilay-Platz, das Herz der Neustadt von Ankara. Auf den breiten Boulevards und durch die enge Fußgängerzone eilen Frauen mit ihren Einkäufen nach Hause, schlendern eng umschlungene Pärchen, plaudern Bekannte, die sich gerade getroffen haben. In den Restaurants und Kaffeehäusern sitzen Männer und Frauen, rauchen Wasserpfeife. Die blitzgelben Taxis stehen im Stau, das Hupen der Autos kommt von allen Seiten. Der Ruf des Muezzin geht im Straßenlärm unter. Türkinnen mit Kopftuch sind seltener zu sehen als in Wien.


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Ankara ist eine moderne dynamische Metropole, Mustafa Kemal Atatürks wahr gewordener Traum von einer Hauptstadt. Hätte der Staatsgründer 1923 den Ort in Zentralanatolien mit seinen damals 30.000 Einwohnern nicht zur Hauptstadt gemacht, wäre er wohl ein Provinznest geblieben. Nun ist Ankara Regierungssitz, Banken- und Geschäftszentrum, Universitätsstadt und Wohnort von rund vier Millionen Menschen. Das Wirtschaftswachstum der letzten Jahre - bis zu 10 Prozent - ist hier ebenso zu sehen wie die Auswirkungen der Arbeitslosigkeit. Offiziell ist in der Türkei jeder zehnte Mensch ohne Job. Auf der Suche nach Arbeit ziehen zigtausende Landbewohner in die Stadt, lassen sich in den Wohnsilos der Vororte nieder oder errichten illegal ihre ärmlichen Hütten an den Hängen der Hügel, die Ankara umgeben.

Träume von der Zukunft

Es sei auch für junge Leute nicht leicht, einen guten Job zu finden, erzählt Ayshe. Sie ist 19 Jahre alt und wunderschön: mit schwarzen glänzenden Haaren, die sie lose hoch gesteckt hat, dunkelbraunen Augen und vollen Lippen. Sie stammt aus Ankara, hat vor kurzem ihr Management-Studium an der Bilkent-Universität begonnen. Ob sie möchte, dass ihr Land Mitglied der Europäischen Union wird? Nein, antwortet sie entschieden. Wirtschaftlich könnte ein Beitritt zwar von Vorteil sein, aber was ist mit der kulturellen Identität, mit der Souveränität der Türkei, überlegt sie. Würde das nicht verloren gehen? Außerdem stelle die EU immer neue Anforderungen an die Türkei, und die Menschen mache das müde. "Warum wollen uns die Leute in Europa nicht?" fragt Ayshe. "Sie haben Angst vor uns, oder? Dass wir zu ihnen kommen. . ."

Ayshe selbst hat nicht vor, ihr Land zu verlassen. Sie sucht nach einem Wort, dann fällt es ihr ein: Braindrain. "Viele junge Menschen machen hier eine gute Ausbildung, gehen dann weg, arbeiten für eine Firma im Ausland, verdienen ihr Geld dort", sagt sie. "Ich möchte nicht dazugehören." Sie will in Ankara eine Bäckerei aufmachen, Süßigkeiten verkaufen. Dann lacht sie auf: Das alles seien Zukunftswünsche, die können sich noch oft ändern.

Wie Ayshe sehen derzeit viele Türken ihre Zukunft nicht in der EU. Umfragen zufolge unterstützt mittlerweile nur jeder dritte von ihnen einen EU-Beitritt seines Landes. Vor zwei Jahren waren es noch fast 70 Prozent. Eine Blitzumfrage in einem Studentenlokal in Ankara zeigt eine noch deutlichere Ablehnung: Von 14 Gästen sind 12 gegen eine EU-Mitgliedschaft. "Wenn die EU uns nicht will, dann halt nicht", ist der Tenor. Immer weniger können die Menschen verstehen, warum die Türkei ständig neue Bedingungen erfüllen müsse.

"Das Verhalten der EU ist nicht europäisch", fasst es Oguz Demiralp zusammen, ehemaliger türkischer Botschafter bei der EU und nun Generaldirektor im Generalsekretariat für EU-Angelegenheiten in Ankara. "Wir sollten ehrlich zueinander sein und nicht - wie die EU - Vorwände erfinden, warum die Türkei nicht beitreten kann." Dabei gehe es Ankara nicht um fundierte Kritik aus Brüssel etwa zur Lage der Menschenrechte - "Wir bemühen uns sehr um Verbesserungen." Inakzeptabel sei aber die politische Ausnutzung anderer Fragen, die nichts mit den Bedingungen für einen EU-Beitritt zu tun hätten, etwa des Konflikts um die geteilte Mittelmeerinsel Zypern.

"Wir haben keine Angst, außerhalb der EU zu bleiben", erklärt Demiralp. "Die EU sollte uns daher nicht damit bedrohen." Dennoch sieht er eine enge Anbindung an Europa als Notwendigkeit für beide Seiten an. Die Türkei nutze der EU sowohl wirtschaftlich als auch sicherheitspolitisch.

Attraktiv für Investoren

Doch auch die Türkei hat schon vom Annäherungsprozess an die EU profitiert. Die Anpassung der Gesetze an EU-Recht hat das Land für ausländische Investoren noch attraktiver gemacht. In den ersten sieben Monaten des Jahres wurden 9,2 Milliarden US-Dollar an Auslandsinvestitionen registriert, allein die österreichischen Investitionen haben sich laut österreichischer Wirtschaftskammer seit 2002 verfünffacht.

Das Pro-Kopf-Einkommen hat sich in den letzten drei Jahren verdoppelt. Die Unterschiede zwischen den einzelnen Regionen, zwischen reichen Industriegebieten wie Istanbul oder Ankara und armen ländlichen Gegenden, sind allerdings enorm: 10 zu 1.

Auch politisch hat der Kurs auf Europa die Türkei verändert. Seit die AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) von Premier Recep Tayyip Erdogan 2003 an die Macht gekommen ist, ist eine Reihe von Gesetzen zur weiteren Demokratisierung erlassen worden. Der gläubige Muslim Erdogan hat den Reformprozess vorangetrieben. Die Rechte von Minderheiten wurden gestärkt, die Gleichberechtigung von Frauen eingefordert, der Einfluss des Militärs eingeschränkt, zumindest rechtlich gesehen.

"In zwei, drei Jahren wurde so viel geschafft wie ohne EU in 20 oder 30 Jahren zu schaffen wäre", bestätigt die Frauenaktivistin und Wissenschafterin Selma Acuner, die an der Ankara-Universität Europäische Studien unterrichtet. Frauenorganisationen zählen zu den aktivsten NGOs in der Türkei, und nicht erst seit 2003 kämpfen sie für eine Verbesserung der Menschenrechtslage. "Wir haben uns den Europa-Kurs zu Nutze gemacht", sagt Acuner. So sei nicht der Beitritt an sich das oberste Ziel. Vielmehr werde der Druck der EU instrumentalisiert, um den Reformprozess zu beschleunigen.

Stockende Reformen

Ein Einfrieren der Beitrittsverhandlungen wäre daher nicht hilfreich. Zwar könnten die Gesetze nicht zurückgenommen werden, erläutert Acuner. Doch deren Umsetzung würde ins Stocken geraten. "Wir hätten noch mehr politische Debatten über den künftigen Kurs der Türkei."

Diese haben aber bereits begonnen. Im kommenden Jahr stehen in der Türkei Präsidentschafts- und Parlamentswahlen an. Und parallel zur EU-Skepsis könnte die Unterstützung für die Ultranationalisten steigen, etwa für die Nationale Bewegungspartei von Devlet Bahceli. Der geißelt das EU-Projekt als "verräterischen Plan" zur Schwächung und Teilung der Türkei.

Zwar können die meisten Türken mit solchen Parolen nichts anfangen. Doch ebenso wenig glauben sie an eine andere Vision - die eines offenen Europas.