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Labour-Politiker und Ex-Europaminister Denis MacShane hält einen Brexit für sehr wahrscheinlich.
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"Wiener Zeitung":War es richtig, das EU-Referendum zu organisieren?
Denis MacShane: Diese Entscheidung wurde 2013 aus rein innerparteilichen Gründen getroffen. Der konservative Premierminister David Cameron fühlte sich unter Druck gesetzt durch die Anti-EU-Politik und die immer stärker werdende Ukip. Seine eigene Partei wurde mit EU-Skepsis infiziert, was er selbst förderte durch Reden und Bemerkungen, in denen er die EU verunglimpfte, seit er 2001 ins Parlament gewählt wurde. Er dachte, durch eine Volksabstimmung über den EU-Verbleib könne er den Anti-EU-Flügel seiner Partei besänftigen. Nur: Wenn man die EU-Skepsis füttert, nimmt sie zu. Jetzt befindet sich Cameron in der Falle seines eigenen Referendums, das die Bevölkerung nie wollte. Wenn er die Abstimmung verliert, verliert er auch seinen Posten als Regierungschef. Und in Großbritannien und Europa werden chaotische und konfuse Jahre beginnen.
Würden Sie sagen, dass Großbritanniens EU-Politik eine Gefangene der größten Medien des Landes ist?
Der Großteil der am meisten verbreiteten Zeitungen gehört besessenen Anti-EU-Ideologen, die gar keine Briten sind oder jedenfalls nicht in Großbritannien leben und Steuern zahlen. Sie veröffentlichten in den vergangenen 20 Jahren Anti-EU-Propaganda und oft eindeutige Lügen als Teil einer Kampagne, die auch von Hedgefonds-Milliardären finanziert wird, welche jegliche Regulierung der Finanzindustrie auf europäischem Niveau ablehnen.
Sollte das Vereinigte Königreich nicht eher die Vorreiterrolle eines Landes übernehmen, das die EU von innen reformiert?
Tatsächlich haben drei britische Premierminister geholfen, Europa mitzugestalten. Winston Churchill regte die erste europäische Integration an, als er zu den "Vereinigten Staaten von Europa" aufrief. Margaret Thatcher stimmte einem großzügigen Aufteilen der Souveränität mit der Einheitlichen Europäischen Akte 1985 und dem Ende der nationalen Vetorechte zu, um den nationalen Protektionismus zu begraben und den Binnenmarkt zu gründen. Tony Blair sagte, die EU solle eine militärische Macht sein und sich um Mitgliedstaaten wie Ungarn, Polen und Slowakei erweitern. Leider hat sich David Cameron nie dafür interessiert, Leadership und Gestaltungswillen in der EU zu zeigen. In seiner Amtszeit sind die Konservativen aus der EVP-Fraktion ausgeschieden, in der die CDU, ÖVP und andere große Mitte-Rechts-Parteien kooperieren und Ideen austauschen. Als ob er sich wünschte, die EU würde gar nicht existieren.
In Ihrem Buch "Brexit. How Britain Will Leave Europe" weisen Sie unter anderem auf die einstige pro-europäische Linie der Tories hin. Wie hat man das Buch in Ihrem Land aufgenommen?
Ja, es ist interessant, dass die Tories zwischen 1950 und 1990 pro-europäisch gesinnt waren, während Labour die europäische Integration ablehnte. Dann haben sich die Konservativen mit der politische übertragbaren Krankheit des Euro-Skeptizismus infiziert, hingegen die Labour Party lernte von ihren sozialdemokratischen Freunden in Deutschland, den nordischen Ländern und Österreich, pro-europäisch zu sein. Mein Buch war eine Warnung. Doch bis vor kurzem dachte das pro-europäische Establishment, ein Brexit wäre unmöglich und könne nicht passieren. Ich wurde wie Kassandra angesehen, die vor einer negativen Zukunft warnte und der niemand zuhören wollte. Mein neues Buch heißt "Let’s Stay Together. Why Yes to Europe", aber ich fürchte, dieses Plädoyer für Europa könnte zu spät sein. Höchstwahrscheinlich lautet der Titel meines nächsten Buches "Why Britain Left Europe"!
Sollten die Briten tatsächlich mehrheitlich für einen Brexit stimmen, müsste zunächst ein Ausstiegsvertrag ausgehandelt werden. Wer sagt, dass es dem Land dann besser geht?
Der Wegfall des gemeinsamen EU-Reisepasses, womit jede ausländische Firma mit Sitz in London und Großbritannien nicht mehr so einfach Geschäfte im EU-Binnenmarkt wird machen können, wird große Auswirkungen auf die ausländischen Direktinvestitionen haben. Derzeit wickelt die Londoner City rund 50 Prozent des gesamten Handels in Euro ab. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Europäische Zentralbank oder Paris und Berlin erlauben, das so fortzusetzen. Also wird es rasch zu einer Rezession kommen, das Pfund wird sinken, Unternehmen werden zusperren, die Arbeitslosigkeit wird steigen. Vielleicht liege ich falsch, und das Vereinigte Königreich wird über Nacht wie Singapur oder Liechtenstein. Aber wir sind ein altes, traditionelles, konservatives Land von 63 Millionen und können nicht von heute auf morgen eine neue Wirtschaft erfinden.
Was würde sich in Großbritannien demokratiepolitisch ändern, sollte das Referendum für den EU-Verbleib ausgehen?
Das hängt davon ab, wie eindeutig die Entscheidung ausfällt. Bei einem sehr knappen Ergebnis, bei dem die Engländer knapp für "Out" stimmten und die Schotten mit großer Mehrheit für den EU-Verbleib von ganz Großbritannien, wird der englische Nationalismus weiter zunehmen. Der Bürgerkrieg unter den Tories wird sich fortsetzen. Camerons Nachfolger wird eine euroskeptische Kampagne führen nach dem Motto: "Der Brexit-Traum ist nicht tot, er ist lediglich aufgeschoben bis zur nächsten EU-Vertragsänderung." In Europa herrschen im Moment zentrifugale Kräfte und schwache Staatschefs ohne nationale Autorität wie François Hollande oder Angela Merkel, die bereits das elfte Jahr regiert; es gibt keine Antworten auf Europas neue Probleme wie Wachstumsschwäche und Zuwanderung. Die Vorstellung, dass Großbritannien in der EU bleibt und sich dazu entschließt, eine positive Reformrolle in der EU übernimmt, ist nett. Es gibt aber keinerlei politischen Enthusiasmus für eine derartige Idee bei uns.
Ich weiß, das ist nicht Ihre größte Sorge, aber wie wird es innerhalb der Tories weitergehen?
Bei einem Brexit kann ich mir nur schwer vorstellen, dass Boris Johnson - der äußerlich und akustisch immer mehr wie Donald Trump wirkt - nicht David Cameron als Tory-Chef ablöst. Er hat ein großes Karriererisiko auf sich genommen, indem er seine eigene Partei herausforderte und sich selbst an die Spitze der populistischen, nationalistischen Bewegung gegen Europa hievte. Wenn sein Hasardspiel aufgeht und beim EU-Referendum ein Brexit herauskommt, was sehr wahrscheinlich ist, wird er seine Belohnung einfordern und in Downing Street einziehen. Dann wird in Großbritannien eine neue Politikära beginnen, weil Johnson Fakten und Fiktion nicht unterscheiden kann und immer wieder populistische Töne anschlägt. Die Wünsche nach EU-Referenden in anderen Ländern werden zunehmen. In zehn Jahren wird die EU möglicherweise nicht mehr so existieren wie heute.
Zur Person
Denis MacShane
ist ein ehemaliger Labour-Politiker. Es saß bis zu seinem Rücktritt 2012 im Parlament und war von 2002 bis 2005 Europaminister.