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Zwei Suizide als Spitze des Eisberges. | Diskussion über Gewaltprävention auch in Österreich. | Sind gewalttätige Computerspiele potenziell gefährlich für die Psyche von Jugendlichen oder nicht? Diese Frage ist Ende 2006 aktueller denn je und spaltet die deutsche Gesellschaft.
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Trauriger Anlass für die Diskussion ist der Amoklauf eines 18-Jährigen an einer Schule im westfälischen Emsdetten am 20. November. Mit Gewehren, selbst gebastelten Rohrbomben, Molotow-Cocktails und Rauchbomben bewaffnet, überfällt er seine ehemalige Schule, insgesamt 37 Personen werden dabei verletzt, anschließend nimmt sich der Amokläufer das Leben.
Nur vier Tage später wird in Berlin ein 17-Jähriger verhaftet, der einen Amoklauf an der Berta-von-Suttner-Oberschule geplant haben soll. Die Polizei findet in seiner Wohnung ein Dutzend Druckluft-Waffen sowie eine Todesliste mit den Namen von fünf Mädchen.
Am 5. Dezember der nächste Schock: In einem Online-Forum kündigt ein unbekannter Mitspieler in Baden-Württemberg für den Nikolaustag einen Amoklauf an seiner Schule an. Die Polizei fahndet nach einem bewaffneten 18-jährigen Schüler, den seine Eltern als vermisst gemeldet hatten. Seine Leiche wird in der Nähe des Elternhauses entdeckt. Nach ersten Ermittlungen hat er sich mit der Pistole seines Vaters erschossen.
Einen Tag später wird in in München ein 21-Jähriger festgenommen, der im Internet mit einem Amoklauf ähnlich wie in Emsdetten gedroht hat. Als Motiv gibt der geständige Täter Langeweile wegen seiner Arbeitslosigkeit an.
Was alle Fälle gemeinsam haben: Die (verhinderten) Amokläufer werden von ihrer Umgebung als introvertierte Einzelgänger und Fans von besonders gewalttätigen "Ego-Shooter"- Computerspielen beschrieben. Schlechte Schulnoten hätten die Aggression teils zusätzlich gefördert.
Massenschlägerei an Berliner Schule
Inwieweit diese Faktoren auch beim Amoklauf eines 16-Jährigen während der Eröffnung des neuen Berliner Hauptbahnhofes am 26. Mai 2006 eine Rolle spielten, bleibt offen. Im Suff verletzt der Bursch insgesamt 41 Passanten wahllos durch Messerstiche und Schläge. Ein Gutachten attestiert ihm wenige Tage später alkoholbedingte verminderte Schuldfähigkeit. Drogen dürften nicht im Spiel gewesen sein. Der Täter selbst will sich an nichts mehr erinnern können. Ihm wird versuchter Mord in 24 Fällen und gefährliche Körperverletzung vorgeworfen.
Zweieinhalb Wochen später, am 13. Juni, gerät die Leistikow-Schule in Berlin-Zehlendorf, die der Hauptbahnhofs-Amokläufer besucht hat, erneut in die Schlagzeilen. Vor Unterrichtsbeginn kommt es zu einer Schlägerei unter mehr als zehn Schülern. Acht Jugendliche werden festgenommen. Die Schulverwaltung gibt bekannt, dass die Lehrstätte im Sommer 2007 geschlossen werden soll.
In Flensburg werden am 22. Dezember zwei Schüler des Husumer Gymnasiums angeklagt. Die Burschen (14 und 16) haben im Internet zur Ermordung ihrer Klassenlehrerin aufgerufen.
Handy: Tauschbörse für Gewaltvideos
Neben den Amokläufen der vergangenen beiden Monate sorgt auch ein weiteres Phänomen für Bestürzung: Immer mehr Schüler laden sich Videos mit Gewaltszenen aufs Handy. Etlichen deutschen Politikern sind diese ebenso ein Dorn im Auge wie die Computer-Killerspiele. Gefordert wird ein völliges Verbot von "Counterstrike" und Co. zum Schutz der Kinder und Jugendlichen - gegen das sich die Spiele-Befürworter aussprechen, weil schließlich nicht jeder, der im Internet herumballert, Amok laufe.
Auch in Österreich wird die Frage, wie Gewaltprävention auszusehen hat und warum offenbar die Schüler immer aggressiver werden, heiß diskutiert. Vor allem verbale Gewalt in Form von Mobbing ist laut schulpsychologischer Abteilung des Bildungsministeriums ein immer häufigeres Problem, insbesondere unter Mädchen, und da vor allem bei den älteren. Auch wird ein Mangel an Zivilcourage genannt. Vielfach schauen Schüler bei Konflikten einfach nur zu, anstatt sich schlichtend einzumischen.
Überforderte Eltern - vernachlässigte Kinder
Das Österreichische Institut für Familienforschung sieht eine Nation überforderter Eltern. Jede zweite österreichische Familie habe zumindest hin und wieder Probleme, jeder Fünfte fühle sich mit der Erziehungsaufgabe "eher oft überfordert". Die Jugendlichen wiederum fühlen sich vernachlässigt. Das jedenfalls gaben 15 Prozent der 15- bis 19-Jährigen bei der NÖ Jugendstudie 2006 an.
Kinderpsychiater Max Friedrich zeichnet ein besonders drastisches Gesellschaftsbild: "Gewalt ist im Alltag unserer Kinder allgegenwärtig und wird voll wahrgenommen." Aggression in der Schule sei meist Weitergabe von Selbsterlittenem. "Erwachsene müssen sich fragen, welches Beispiel sie darstellen."
Die oberösterreichische Kinder- und Jugendanwältin Christine Winkler-Kirchberger vermisst in den heimischen Klassenzimmern Sozial- und Integrationsarbeit. Ihrer Meinung nach könnten entsprechende Einrichtungen "rund die Hälfte der Gewalttaten an Schulen im Vorfeld verhindern helfen".
Glaubt man Polizei-Experten, so ist das A und O der Gewaltprävention ein funktionierender Lehrkörper. Probleme gebe es vor allem dort, "wo sich niemand für die Jugendlichen wirklich zuständig fühlt".
Gewalt an heimischen Schulen
2. Juni 2006: Das Wiener Oberlandesgericht bestätigt das Urteil (sieben Jahre Haft) gegen einen mittlerweile 16-Jährigen, der am 15. September 2005 in einem Polytechnikum in Wien-Währing einen Mitschüler (14) bei einer Rauferei mit einem Fixiermesser erstochen hat.
23. November: In Kärnten wird ein Fall von "Happy Slapping" bekannt: Ein 15-Jähriger aus St. Veit/Glan wurde von sechs Gleichaltrigen zwei Monate hindurch immer wieder verprügelt und dabei gefilmt. Unter anderem trug der Schüler dabei einen Nasenbeinbruch davon. Die Attacken wurden mit einem Handy gefilmt.
28. November: Nach den Amokläufen in den USA und in Deutschland steigt auch in Österreich die Sensibilität beim Thema Gewalt in der Schule. In Eisenstadt wird ein Schüler der HTBLA vorläufig vom Unterricht suspendiert. Der 17-Jährige soll eine "Todesliste" mit Namen von Mitschülern und Lehrern geführt haben.
2. Dezember: Der Fall eines elfjährigen Hauptschülers erschüttert Oberösterreich. Der Bub aus dem Innviertel wurde einige Tage zuvor von einem gleichaltrigen Klassenkamerad fast zu Tode gewürgt.
16. Dezember: In Tirol taucht eine 13-Jährige unter, nachdem sie ein ganzer Haufen Jugendlicher auf dem Schulweg überfallen und misshandelt hat. Die Attacke soll auch mit einem Handy gefilmt worden sein. Grund war offenbar die Eifersucht ihres Ex-Freundes.