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"Wenn sich jetzt nichts ändert . . ."

Von Martyna Czarnowska

Europaarchiv
Der Präsidentschaftsüberschattet den Parlamentswahlkampf. Bei den sogenannten Vorwahlen in Wrzesnia siegte in der Vorwoche die Bürgerplattform. czar

Zwei Rechtsparteien kämpfen um den ersten Platz im Sejm. | Junge auf Suche nach Perspektiven. | Wirtschaft wächst dreimal so stark wie in Eurozone. | Warschau. Hanna Gronkiewicz-Waltz muss diskret vorgehen. Die Spitzenkandidatin der Bürgerplattform (PO) für Warschau ist in einem Einkaufszentrum im Osten der polnischen Hauptstadt unterwegs. Sie wird aber nicht von jungen Wahlkampfhelfern begleitet, es werden keine Luftballons an Kinder und Flugblätter an deren Eltern verteilt. Die Einkaufszentren wollen keine Parteien, sie wollen keinen Wahlkampf.


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Gronkiewicz-Waltz gibt bald auf, es hat keinen Sinn. Es ist mitten unter der Woche, nur wenige Menschen hasten an den Boutiquen, Elektronik- und Papiergeschäften vorbei. Die frühere Präsidentin der polnischen Nationalbank kandidiert für den Sejm, das polnische Parlament. Einen Ministerposten zu übernehmen, daran denkt sie kaum: "Welcher Nationalbankchef möchte schon Finanzminister sein und für alles beschuldigt werden?"

Ziel: Warschau

Erklären muss die Kandidatin schon jetzt einiges. Bei ihrer nächsten Station, im Zentrum der Stadt, in der Nähe des Kulturpalastes, wo Bankangestellte in Anzügen an den Arbeitslosen auf der Parkbank vorbeihetzen, wird Gronkiewicz-Waltz oft nach "dieser Flat tax" gefragt, die die PO in ihrem Wahlprogramm verspricht. Wenn die Steuern gesenkt werden, können mehr Arbeitsplätze geschaffen werden, ist ihre Antwort. Der einheitliche Steuersatz nutze allen - und nicht nur den Reichen, wie der mögliche künftige Koalitionspartner Recht und Gerechtigkeit kritisiert.

Junge Frauen bleiben stehen, lassen sich von der "Frau Professor" Autogramme geben. Ania Ziolkowska bedauert, dass die Bürgerplattform nicht schon längst an der Macht ist. Sie glaubt, dass die Zukunft besser sein wird. Sie will es für ihre zweijährige Tochter, die sie im Kinderwagen vor sich her schiebt. Vor vier Jahren hätte sie die PO auch schon gewählt. Aber damals ist sie gerade nach Warschau gekommen, war noch nicht angemeldet und bekam keinen Wahlzettel.

Viele kommen nach Warschau. Hatte die Stadt vor fünfzehn Jahren nicht einmal eine Million Einwohner und Einwohnerinnen sind es nun rund 1,6 Millionen. Die Arbeitslosigkeit liegt hier bei etwa sechs Prozent, während sie in südlichen Gegenden Polens bis zu 35 Prozent betragen kann. Im Landesschnitt wird sie mit 18 Prozent angegeben.

Statt Emigration

Die 31-jährige Ada Loniewska ist in Warschau geboren und möchte hier auch bleiben. Noch hat sie nicht vor, wie so viele andere, Arbeit im Ausland zu suchen. Doch das wissenschaftliche Institut, in dem die Biologin arbeitet, lässt ihr kaum Entwicklungschancen. Alle paar Jahre beginnt das Zittern, ob die Finanzierung durch den Staat weiter aufrecht erhalten wird. Und Fördergelder von der Europäischen Union beantragen muss auch gelernt sein. Polen ist doch erst seit einem Jahr Mitglied der Gemeinschaft.

Rund 1200 Zloty, etwa 300 Euro verdient die junge Frau. Fast genauso viel verschlingt die Miete für die Zwei-Zimmer-Wohnung, in die sie vor kurzem gezogen ist. Als Ada ihrem Chef mitteilte, dass sie heiraten wird, erzählte sie ihm von ihrem künftigen Mann. "Oh, ein Tierarzt", freute sich der Vorgesetzte: "Da können Sie beide ja auswandern, Tierärzte sind in Frankreich begehrt." Ada will aber nicht weg. "Es kann doch nicht sein, dass wir wieder keinen anderen Ausweg als die Emigration sehen!" ruft sie. "Der Plan war, dass es hier besser wird, dass wir hier daran arbeiten."

Dass die nächste Regierung diesen Plan umsetzt, darauf vertraut Ada kaum. Daher weiß sie noch nicht, wen sie am Sonntag wählen wird. Bisher hatte sie der Arbeiterpartei (UP) ihre Stimme gegeben, weil die mehr als andere für Gleichberechtigung von Frauen und Männern eingetreten ist. Doch jetzt weiß sie nicht einmal, ob der bisherige kleine Koalitionspartner der Regierungspartei SLD (Bündnis der Demokratischen Linken) überhaupt noch kandidiert. "Muss ich denn wirklich die Kommunisten wählen, damit ein Gegengewicht zu dieser Rechtsfront entsteht?" überlegt Ada besorgt.

Das Wort Postkommunisten wird in Polen nur selten gebraucht. Für die meisten sind die SLD-Mitglieder schlicht Kommunisten. Denn die Mehrheit jener 50-Jährigen, die in den letzten vier Jahren an der Macht waren, hat ihr Handwerk zwar teils auf ausländischen Universitäten gelernt, kommt aber aus den Strukturen der PZPR, der Vereinigten Arbeiterpartei. Bei der Parlamentswahl 2001 hat SLD einen überwältigenden Sieg errungen, mehr als 40 Prozent der Stimmen erhalten. Einige Parteien wie die bis dahin regierende Wahlaktion Solidarnosc schafften nicht einmal den Wiedereinzug in den Sejm. Denn auch sie kamen um für ihre Wähler schmerzhafte Reformversuche nicht herum, mussten sich Korruptions- und anderen Vorwürfen stellen.

Vergangenheit holt ein

Vier Jahre später kommt SLD in Umfragen auf sieben Prozent - und würde die Fünf-Prozent-Hürde für Parteien im Sejm gerade noch schaffen. Die Kritik an angeblicher Bestechlichkeit und Vetternwirtschaft blieb nicht ohne Folgen. Hinzu kommen die Versuche der Bewältigung der jüngsten Vergangenheit Polens.

Erst vor kurzem ist die Debatte in Gang gekommen, wer in welchem Ausmaß vor 1989 mit den Sicherheitsdiensten der sozialistischen Regierung zusammengearbeitet hat. Als ein Journalist Anfang des Jahres eine Liste mit mehr als 150.000 Namen von Personen, die sich als Spitzel betätigten oder als solche gewonnen werden sollten, veröffentlichte, betraf die Diskussion nicht mehr nur Politiker. Freunde und Verwandte waren mit Vorwürfen und Fragen ihrer Nächsten konfrontiert. Zunehmend viele Polen sehen die Notwendigkeit einer Klärung der Vergangenheit - werden aber gleichzeitig der Abrechnung müde.

Doch erstmals seit 15 Jahren müssen sie nicht wählen zwischen der aus den sozialistischen Strukturen hervorgegangenen Demokratischen Linken und der Rechten, die sich - mehr oder weniger direkt - aus der Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc gebildet hat. Sie müssen nicht in die Vergangenheit schauen, sondern können sich für die Zukunft entscheiden. So stellen es zumindest Jaroslaw und Lech Kaczynski dar, deren konservative Partei PiS (Recht und Gerechtigkeit) laut Umfragen die nach der Bürgerplattform zweitstärkste Fraktion ist. Die eineiigen Zwillingsbrüder kandidieren beide - der eine bei der Parlamentswahl, der andere bei der Präsidentschaftswahl zwei Wochen später.

Wie die PO hat auch PiS Wurzeln in den ersten nichtkommunistischen politischen Gruppierungen nach 1989. Dennoch wird es in der möglichen Koalition der beiden Partner, die gemeinsam eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament erringen könnten, genug Meinungsunterschiede geben. So geißelt PiS schon jetzt den wirtschaftsliberalen Kurs der Bürgerplattform - und benutzt dazu auch den national-katholischen Sender Radio Maryja.

Doch nur auf dem Reformweg komme Polen weiter, findet Grzegorz Lupicki. Der 52-jährige Kleinunternehmer ist in der Druckereibranche tätig. Seine Klagen unterscheiden sich kaum von jenen österreichischer Unternehmer: Die Lohnnebenkosten und Abgaben seien zu hoch, die Belastung kleiner und mittlerer Betriebe sei ungerechtfertigt. Doch gerade diese schaffen Arbeitsplätze, meint Grzegorz.

Die Einführung einer Flat tax kann er nur begrüßen. Davon würde nicht nur er profitieren. "Schon die Senkung der Körperschaftssteuer auf 19 Prozent hat nicht nur mir etwas gebracht", erzählt er. "Das Geld, das mir übrig geblieben ist, habe ich wieder investiert - etwa in die Renovierung des Bürogebäudes. Dabei habe ich gleichzeitig Arbeitsplätze geschaffen."

Suche nach Arbeitern

Die Arbeitslosenzahlen vernimmt der Unternehmer sowieso mit Skepsis. "Wer Arbeit will, kriegt sie auch", ist er überzeugt. "Wissen Sie, wie schwierig es ist, Facharbeiter zu bekommen?" fragt er. Er weiß es, hat er doch lange Zeit nicht einmal einen qualifizierten Drucker finden können. Dabei ist diese Berufsgruppe überdurchschnittlich gut bezahlt.

Für die Umsetzung ihres Programms gibt Grzegorz der Bürgerplattform zwei, drei Jahre. "Die Leute müssen die Verbesserung in der Tasche spüren", sagt er. Bis jetzt hatten dies nicht alle getan, obwohl Polens Wirtschaft fast dreimal so stark wächst wie jene in Ländern der Eurozone und die Landeswährung Zloty so hart ist wie kaum jemals zuvor.

Dennoch ist bei vielen Polen das Gefühl der Resignation stark. Es ist sowieso alles eins, ist in Polen oft zu hören. Waren die Roten an der Macht, haben sie sich die Taschen voll gestopft, und kommen die Schwarzen in die Regierung, vergessen auch sie sofort ihre Wahlversprechen. Wozu also überhaupt wählen?

Bei der Volksabstimmung über den Beitritt Polens zur EU gingen im Juni 2003 rund 59 Prozent der Wahlberechtigten zu den Urnen. Um die Menschen aber dazu zu bewegen, hatte die Regierung bis zuletzt zur Teilnahme aufgerufen und das Referendum sogar für zwei Tage angesetzt. Ein Jahr später, bei der Wahl zum europäischen Parlament, waren es nur noch 21 Prozent, die wählen gingen.

Ada und Grzegorz wollen ihre Stimme abgeben. Wenn sich aber auch jetzt nichts ändert, dann wissen sie nicht weiter.

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