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Wenn Terroristen die Videoüberwachung missachten

Von Clemens M. Hutter

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Clemens M. Hutter war Ressortchef Ausland der "Salzburger Nachrichten".

Der Schock von Boston lenkt den Blick weg davon, dass sich der Terrorismus vom "selektiven" zum "unterschiedslosen" Terrorismus gewandelt hat.


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Das Attentat von Boston liefert den Terroristen-Ausbildnern im Orient ein Lehrstück, wie man den Kriminalisten in die Hände spielt. Zwar töteten die beiden Attentäter drei Personen und verletzten rund 180, aber ihre Mordlust vernebelte Grundregeln der taktischen Planung: Missachtung der Videoüberwachung am Tatort, kein Kalkül mit der Tatsache, dass bei einem Marathon auch tausende private Videos gemacht werden, und Verstoß gegen die Grundregel, die Schlagkraft für weitere Terrorakte zu erhalten. Wussten sie denn nicht, dass Videoüberwachung die "Rucksack-Attentäter" in der Londoner U-Bahn 2005 aufgedeckt hatte? Der Anschlag in Boston hat eine Terror-Debatte ausgelöst, die um die möglichen Motive individueller oder vernetzter Terroristen kreist, aber die dramatische Änderung der taktischen Qualität des Terrorismus seit dem 11. September 2001 außer Betracht lässt: "unterschiedsloser Terror", maximale Opferzahl und Zerstörung von ökonomischen Nervenzentren durch Selbstmörder.

9/11 markiert den Qualitätssprung dank ebenso aufwendiger wie langfristig angelegter Tarnung und elektronische Vernetzung. Seit den Attentaten der nach ihrem Dolch (sica) benannten orientalischen Sikarier gegen die Römer herrschte "selektiver Terror", den das Verhör in Friedrich Schillers "Bürgschaft" darstellt: "Was wolltest du mit dem Dolche, sprich?" - "Die Stadt vom Tyrannen befreien!" Ersetzt man "Dolch" durch "Bombe", "Sprengfalle" oder "Pistole", dann passt die taktische Qualität auf den Terror der italienischen Rotbrigadisten und der deutschen RAF. Sie ermordeten ab 1970 rund 65 prominente Persönlichkeiten wie Aldo Moro oder Hanns Martin Schleyer. Diese "Propaganda der Tat" sollte beweisen, dass "Ausbeuter" und "Imperialisten" nicht zu schützen seien und das Volk sich durch einen Aufstand "befreien" könne. Mit in dieses Bild gehört das Freipressen von "Genossen im Knast" durch die Entführung von Flugzeugen oder Personen. Trotzdem bewirkte "selektiver Terror" nichts Nachhaltiges. Deshalb veränderte 9/11 mit der Steigerung vom "selektiven" zum "unterschiedslosen Terror" die Zielrichtung: Nicht nur die Prominenz, sondern die Gesellschaft insgesamt ist schutzlos. Massenmord soll maximalen Schrecken (Terror) und panische Angst verbreiten, damit ein politisches, ideologisches oder religiöses Ziel durchsetzbar wird. Die Generaldrohung lautet, dass jeder Mensch überall schutzlos ist, weil der Terrorist Ort, Zeitpunkt und Waffe bestimmt und überraschend zuschlägt. Die Gesellschaft ist gegen Terror nicht schutzlos. Die Abwehr ist auch elektronisch und fahndungstechnisch gerüstet, Videoüberwachung an strategisch sensiblen Punkten schreckt ab - den Sonderfall Boston ausgenommen. Dagegen spricht auch nicht die unglaublich pannenreiche Fahndung nach der rechtsradikalen Zwickauer Terrorzelle NSU, die zwischen 2000 und 2007 acht Türken, einen Griechen und eine Polizistin ermordet hat und erst 2011 aufgeflogen ist. Obschon es perfekte Sicherheit nicht gibt, sollte die Reaktion auf spektakuläre Terrorakte nicht Panik, sondern Vertrauen in Ordnungsorgane sein.