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Wenn wir wollten, wie wir könnten

Von Martyna Czarnowska

Europaarchiv

Im Jahr der Erweiterung stellte sich für die Europäische Union auch die Frage ihrer künftigen Ausrichtung. Doch mit einer Entscheidung zwischen Ausdehnung und Konsolidierung allein ist es wohl kaum getan. Denn beides gleichzeitig ist nicht möglich. Die Befürchtung liegt nahe, die EU könnte in ihrer Größe erstarren. Das Potenzial der Gemeinschaft wird dabei unterschätzt. Doch der Erfolg wirft auch Schatten.


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Die Dimensionen sind gewaltig: 25 Länder, 457 Millionen Menschen, 21 Sprachen, mehr als 500 Volksgruppen. Die Erweiterung, die die EU am 1. Mai formal vollbracht hat, war die bisher größte ihrer Geschichte. Abgeschlossen ist sie nicht. Zu groß sind noch die Unterschiede in den einzelnen Mitgliedstaaten und auch innerhalb der einzelnen Länder. Während etwa Prag mit seiner Wirtschaftskraft deutlich über dem Durchschnitt der EU-15 liegt, beträgt die Wirtschaftsleistung in manchen Teilen Polens nicht einmal ein Drittel davon. 50 Jahre könnte es dauern, bis die neuen Mitglieder den Wohlstand der alten erreicht haben.

So viel Zeit ist auch nötig, um die Union zu konsolidieren und zu vertiefen, sagen Vorsichtige. Die EU habe die Osterweiterung noch lange nicht verkraftet; für eine weitere Ausdehnung sei es noch zu früh. Doch so viel Zeit bleibt nicht. Vor zwei Wochen haben die EU-Staats- und Regierungschefs den Fahrplan für Rumänien und Bulgarien bestätigt: Die beiden Länder könnten 2007 Mitglieder der EU werden. Kroatien will kurz darauf folgen. Und auch nach dem Beschluss, im Oktober kommenden Jahres Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufzunehmen, sind die Erweiterungsmöglichkeiten noch lange nicht ausgeschöpft. Die Ukraine sieht nach ihrer Revolution die Chancen auf einen Kandidatenstatus steigen, im neuen Mitgliedsland Polen hat sie einen lauten Fürsprecher. Die Balkanstaaten wünschen sich ebenso eine Anbindung an die EU.

Die Attraktivität der Union liegt in ihrem Erfolg. Und es geht ums Geld. Nicht nur Stabilität sondern auch Wohlstand wird bei jedem Erweiterungsschritt exportiert. Die größten Profiteure befinden sich unter den Landwirten. So haben sich etliche polnische Bauern, die einem EU-Beitritt skeptisch gegenüber gestanden sind, mittlerweile zu Befürwortern gewandelt - nicht zuletzt dank der finanziellen Zuwendungen aus Brüssel. Die slowakische Landwirtschaft hat heuer wegen der Direktzahlungen und einer guten Getreideernte Gewinne von rund 77 Millionen Euro verbucht. In den Agrarbereich sollen im kommenden Jahr 49,1 Milliarden Euro fließen, fast die Hälfte des EU-Budgets.

Die Skepsis bleibt

Doch im Empfinden weiter Teile der Bevölkerung in den westeuropäischen Mitgliedstaaten überwiegen die Nachteile. Befürchtungen wegen Arbeitsmigration oder steigender Kriminalitätsrate überschatten Vorteile wie die gemeinsame Währung oder Reisefreiheit. Das Misstrauen manifestiert sich nicht zuletzt an der Wahlbeteiligung. Von ihrem Recht, die Abgeordneten zum EU-Parlament zu wählen, machten im Juni lediglich 45 Prozent der EU-Bürgerinnen und -Bürger Gebrauch. Die EU-weit geringste Zustimmung zur Aufnahme von Rumänien, Bulgarien, Kroatien und der Türkei gibt es in Österreich. Und auch gegenüber der eigenen Mitgliedschaft sind viele Österreicher anhaltend skeptisch.

Die Verteilungskämpfe schlagen sich auch in der 2005 zu führenden Debatte um den Finanzrahmen der EU für die Jahre 2007 bis 2013 nieder. Während die Empfängerländer mehr Ausgaben fixiert haben wollen, möchten die Nettozahler ihre Beiträge nicht erhöhen.

Die Diskussion unter 15 Staaten war schon schwierig, unter 25 wird sie nicht leichter. Eine Vereinfachung der Entscheidungsprozesse setzte sich die europäische Verfassung zum Ziel, die heuer feierlich unterzeichnet wurde. Doch ob sie in allen Ländern ratifiziert wird und damit in Kraft tritt, ist nicht gewiss.

So haben die Skeptiker in einem Punkt recht: Eine Erweiterung und Vertiefung der Union ist gleichzeitig nicht machbar. Doch in der Vielfalt Europas liegt auch seine Chance. Ob dies eine Beschränkung auf eine Wirtschaftsunion bedeutet, wird sich erst weisen.

Es ist ausgerechnet ein Amerikaner, der vom Potenzial Europas schwärmt. Die so genannte alte Welt habe die attraktivsten politischen und wirtschaftlichen Ansätze, meint Jeremy Rifkin in seinem Buch "Der Europäische Traum". Auch wenn das Ziel, bis zum Jahr 2010, der wettbewerbsfähigste Wirtschaftsraum der Welt zu werden, nicht erreichbar erscheint - die Konkurrenzfähigkeit Europas wird oft unterschätzt. So beträgt das Bruttonationalprodukt der EU 10,5 Billionen US-Dollar, der USA 9,5 Billionen. Während das Handelsdefizit der Vereinigten Staaten heuer 520 Milliarden US-Dollar übersteigt, exportiert die EU mehr als sie importiert. In den USA leben 17 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze, in Österreich beispielsweise sind es seit Jahren weniger als fünf Prozent.

Der Einzelkämpfer USA verliere an Kraft, der europäische Teamspieler hole auf, meint Rifkin. Die Vision Europa kann nur am Kleingeist zerschellen.