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Wenn Wörter ihr Gesicht verlieren

Von Markus Kauffmann

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Markus Kauffmann , seit 22 Jahren Wiener in Berlin, macht sich Gedanken über Deutschland.

Dass Wörter einen Sinn haben (sollten), wissen wir. Dass Wörter auch einen Klang haben, daran erinnern wir uns noch. Aber warum vergessen wir so oft, dass sie auch ein Gesicht haben?


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Hand aufs Herz! Wann haben Sie zum letzten Mal einen von Hand in Schönschrift geschriebenen Brief von wenigstens zwei Seiten Länge verschickt? Oder erhalten? Und wann haben Sie zuletzt ein Buch gekauft, nur weil es ein so wunderbar schönes Schriftbild hatte? "Wir sind umgeben von Schrift", schrieb ein Kollege in der FAZ, "über ihre ästhetische Qualität denken wir kaum nach."

Selbst auf die Gefahr, als Kulturpessimist abgestempelt zu werden, werde ich den Eindruck nicht los, dass sich unsere Schriftkultur in den letzten Jahren und Jahrzehnten nicht gerade verbessert hat. Und reumütig gestehe ich, dass auch ich meine Privatkorrespondenz der Schnelligkeit und des Komforts halber am liebsten übers Internet abwickle.

Daran musste ich denken, als in dieser Woche der 90. Geburtstag eines Mannes gefeiert wurde, den kaum einer kennt, obwohl mit dessen Werken jeder schon einmal zu tun hatte: Hermann Zapf, geboren am 8. November 1918 in Nürnberg, seines Zeichens Typo- und Kalligraph. Eigentlich wollte er ja Elektrotechniker werden, aber sein Vater hatte sich bei den Nazis politisch missliebig gemacht und keiner traute sich,

den Sohn in die Lehre zu nehmen.

Über tausend Umwege schlitterte er allmählich in den Beruf des Schriftgestalters. Seine erste Schrifttype entwickelte er 1938 - er hatte sich als autodidaktischer Typograf in Frankfurt selbständig gemacht - für eine berühmte Schriftgießerei, deren künstlerischer Leiter er nach dem Krieg wurde. Die "Gilgengart" sollte eine seiner seltenen Frakturschriften bleiben. Von den Nazis wurde sie als "Judenletter" verboten.

Seit 70 Jahren arbeitet Zapf für die Firma Linotype, eine Legende der Branche. Und wie er arbeitete! Unermüdlich, unerschöpflich, ideenreich! Insgesamt hat er mehr als 200 Alphabete in zahlreichen Sprachen entwickelt. Wer sich ein wenig mit dem Thema Schrift befasst hat, kennt mit Sicherheit die "Palatino", eine von Zapf bereits 1949 entwickelte Renaissance-Antiqua. "Die Palatino haben wir nach dem italienischen Schreibmeister des 16. Jahrhunderts, Giambattista Palatino, benannt. Ich hoffe, dass er mir im Himmel das Verwenden seines guten Namens verzeiht", lächelt der Neunzigjährige.

Heute ist die Palatino in jedem Computer-Text-Programm integriert. Aber auch Schriften wie "Aldus", "Optima" und "Medici" stammen aus seinem Stichel und seiner Feder. Und wer hat nicht schon einmal seine schnörkeligen "Zapf-Dingbats" verwendet - die verspielten Herzen, die Schneekristalle und Mini-Sterne?

Ein besonders edles Produkt ist die "Zapfino", eine schwungvolle, kalligrafisch gestaltete Schreibschrift, die inzwischen auch jedem Computer-Nutzer zur Verfügung steht. Mit ihr schmücken sich heutzutage alle Vornehmtuer, von der Hochzeitseinladung bis

zur snobistischen Visitenkarte.

Sein bedeutendster Auftrag war 1960 die kalligrafische Ausfertigung der Präambel zur UN-Charta in Französisch, Englisch, Spanisch und Russisch, die heute im Herzen New Yorks, in der "Pierpont Morgan Library", Abteilung für historische Manuskripte, aufbewahrt wird. Die schwierigste Aufgabe war zweifellos die Schaffung eines pan-nigerianischen Alphabets. Zapf musste für rund vierhundert Sprachen, die auf dem Gebiet Nigerias gesprochen werden, einen gemeinsamen Zeichenvorrat schaffen.

Und was ist mit meinem "Kulturpessimismus"? Zapf: "Zweitausend Jahre Schriftkultur gehen im Augenblick als Ballast über Bord." Eben.