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"Wer bin ich?"

Von Jan Michael Marchart

Gehirn

Demenz ist eine der größten Herausforderungen einer alternden Gesellschaft. Für die Regierung ist sie ein blinder Fleck.


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Wien. Sie wiederholt den Satz mehrmals, weil sie vergisst, dass sie den Gedanken schon ausgesprochen hat. Er geht heute bereits zum fünften Mal in die Apotheke um die Ecke und will Medikamente abholen, obwohl er davon schon unzählige Packungen daheim hat. Der Name des Sohnes oder der Tochter will einfach nicht mehr einfallen. Schneit es gerade? Mitten im Sommer? Demenzkranke verlieren die Orientierung: räumlich, zeitlich und sozial. Sie erinnern sich zwar oft noch lange an das, was sie früher gelernt haben. Aber sie vergessen sich selbst.

Ihr Verhalten kann mitunter verstörend wirken. Der Mensch, mit dem man viele Jahre gemeinsam verbracht hat, verändert seine Persönlichkeit, äußert plötzlich Angst, Unwillen und Aggressivität, manchmal ein enthemmtes Verhalten, eine Unberechenbarkeit, die zwischen Schrei- und Kussattacken schwanken kann.

Demenzkranke brauchen Hilfe im Alltag, die für Angehörige und Pflegende zur Belastung werden kann. "Demenz ist keine gute Krankheit, um damit alleine zu sein", sagt der Schweizer Gerontopsychiater Christoph Held.

Held ist eine Koryphäe auf dem Gebiet der Demenz. Er hat über viele Jahre in Pflegeheimen den Verlust von Nervenzellen im Gehirn, diesen "Art Filmriss" wie er es nennt, beobachtet und seinen Alltag in seinem Buch "Bewohner" niedergeschrieben.

Das Tragische an der Demenz sei, sagt Held, dass sie mit einer völlig verunsicherten Art des eigenen Selbst einhergehe, mit der Frage "Wer bin ich?" Alles, was man im Leben einmal war, verändere und relativiere sich, sagt Held. Alltägliche Verrichtungen können nicht mehr erledigt werden. Auch vertraute Gegenstände und Menschen werden fremd und bedrohlich. Diese Überforderung und innere Zerrissenheit, das Selbst und die eigene Umgebung immer weniger deuten zu können, lasse eine beginnende Demenz oft schwierig von einer Depression unterscheiden.

Jedes Jahr erkranken rund 35.000 Menschen in Österreich neu an Demenz, am stärksten verbreitet ist die sogenannte Alzheimerkrankheit. Bis 2050 rechnet man mit rund 262.200 Erkrankten, was nahezu einer Verdreifachung seit der Jahrtausendwende (95.000) und der Bevölkerung der Stadt Graz entspricht.

Diese Zahlen trügen. Viele Patienten bekommen aus Zeitgründen und falscher Loyalität des Hausarztes, den sie in der Regel seit vielen Jahren kennen, keine Diagnose, obwohl sie schon Symptome haben. Nicht selten nehmen auch Betroffene in den frühen Krankheitsphasen ihre Vergesslichkeit und Desorientiertheit zwar wahr, versuchen diese aber zu überspielen und isolieren sich aus Scham und Angst von ihrem sozialen Umfeld. Die Dunkelziffer der Erkrankten ist weit höher.

Durch die steigende Lebenserwartung werden jedenfalls immer mehr Demenzkranke in Österreich leben und wir werden ihnen begegnen: im Café, beim Arzt, in der Buchhandlung oder im Bus - mit entsprechenden Anforderungen an Gesellschaft und Institutionen.

Obwohl die Zahl der Erkrankten in den nächsten Jahren rasant steigen wird, kommt der Begriff Demenz im Arbeitsprogramm der Regierung nicht einmal vor, eine Anfrage, was das zuständige Gesundheits- und Sozialministerium zum Thema Demenz plant, kann in mehreren Stunden nicht beantwortet werden, die Demenzstrategie der Vorgängerregierung ist längst in der Schublade verschwunden - ein waghalsiges Statement.

Es sei höchste Zeit, das Thema zu enttabuisieren und zu lernen, die Krankheit zu verstehen und die Angehörigen zu unterstützen, sagt der Psychiater Held.

Wäre da nicht die Angst vor der bekannten Unbekannten. Zunächst einmal sei da die allgemeine Angst der Leute, den Verstand zu verlieren, sagt Held. Hinzu komme der aussichtslose Fakt, dass es keine Medikamente oder Therapien gibt, die eine Demenz erfolgreich stoppen können - die Forschung tappt im Dunklen. Am Ende der Krankheit steht der unwiderrufliche Verlust der eigenen Lebensgeschichte. Deshalb gibt es nur allgemeine Präventionsregeln, die das Demenzrisiko senken sollen: Bewegung, gesunde Ernährung, Gehirnübungen und soziale Kontakte. Im Schnitt dauert eine Demenzerkrankung acht bis zehn Jahre, und je früher man erkrankt, desto schneller verläuft der Prozess.

Zwar lässt sich Demenz weder heilen noch bremsen, das bedeutet aber nicht, dass es sinnlos wäre, Verdachtsmomente medizinisch abklären zu lassen. Allein schon, um behandelbare Ursachen von Vergesslichkeit wie Depression oder Vitaminmangel auszuschließen. Außerdem ist der Patient mit seinem Schicksal nicht alleine.

Denn bei der Demenzpflege gilt die Maxime: möglichst lange zu Hause bleiben. Viele Angehörige entschließen sich auch dazu, selbst zu pflegen - mehr als drei Viertel der derzeit geschätzt 120.000 Demenzkranken in Österreich werden daheim versorgt. Solange aber unklar ist, was etwa mit dem Ehepartner nicht stimmt, kann sein Verhalten falsch gedeutet werden. "Du hörst mir gar nicht mehr zu, liebst du mich nicht mehr?", wird dann geklagt. Empathie und Interesse seien allerdings kognitive Fähigkeiten, die schon in einem frühen Stadium der Demenz beeinträchtigt werden, erklärt Held. Nach einer Diagnose könnten sich Angehörige mit der Situation besser auseinandersetzen und manche Reaktionen des Kranken werden nicht mehr als böser Wille verstanden.

In einer späteren Phase der Demenz kann aber der Punkt kommen, an dem sich Angehörige Hilfe suchen sollten. Meist ist diese Grenze aber längst überschritten, wenn sie dies tun. Wenn der Erkrankte seine Gattin nicht mehr erkennt und aus der Wohnung haben will, die eigenen vier Wände für ihn so fremd und bedrohlich werden, dass bei ihm Angst und Wahnhaftigkeit eintreten oder wenn schlicht die Pflegebedürftigkeit des Erkrankten stärker zunimmt, etwa wenn Urin- und Stuhlinkontinenz hinzukommen: Spätestens dann sei die Maxime "möglichst lange zu Hause" zu hinterfragen und ein Heimantritt anzustreben, sagt Held. Dieser kann für beide entlastend wirken.

Doch der Heimantritt ist für Angehörige ein großes Kapitel, erzählt Michael Smeikal. Smeikal ist stellvertretender ärztlicher Leiter des Pflegekrankenhauses Tokiostraße in Wien. Der Heimantritt sei mit großen Schuldgefühlen der Angehörigen verbunden. Manche fühlen sich durch die Familie unter Druck gesetzt, den Demenzkranken daheim zu behalten. Andere wollen ihr Eheversprechen einhalten und glauben zu versagen, wenn sie nicht ihr gesamtes Leben lang für den Ehepartner sorgen. "Nicht nur die dementen Personen werden bei uns begleitet", sagt Smeikal. "Ganz oft sind es auch die Angehörigen, die psychische Hilfe brauchen, um die Schuldfrage irgendwie verarbeiten zu können." Dafür brauche es aber Zeit und Ressourcen. Beides sei rar in der Demenzpflege.

Das sei auch der Grund dafür, warum noch immer zu selten eine Diagnose gestellt werde. Die Demenzdiagnostik sei kein Röntgen, sagt Smeikal. Dafür reiche kein Befund. Demenz müsse man austesten, sich Zeit für ein Gespräch nehmen, auch weil Demenz ein für Patienten und Angehörige schambehaftetes Thema sei. Beide müssten begleitet und die Frage geklärt werden, was zu tun sei. "Solch lange Arztgespräche sind aber keine Leistung, die die Krankenkasse honoriert", sagt Smeikal. Daher fänden sie praktisch nicht statt. Es gebe generell ein Versorgungsdefizit in diesem Bereich: Anti-Dementiva könne nur ein Facharzt ausstellen, Neurologen und Psychiater im niedergelassenen Bereich seien aber Mangelware und in der Demenzpflege gebe es schon jetzt lange Wartelisten und zu wenig ausgebildete Pflegerinnen. Das alles verstärkt sich noch einmal im Stadt-Land-Vergleich. "Wir werden die Angehörigen brauchen, die daheim pflegen, sie brauchen aber Unterstützung", sagt Smeikal.

Einmal mehr kommt es im Sozialbereich auf spendenfinanzierte Initiativen wie das Café Zeitreise der Caritas an, bei der Demenzkranke und Angehörige an zwei Terminen in der Woche zusammenkommen und malen, plaudern oder turnen - beiderseitig in ihrer Rolle umsorgt werden. Spendenbasiert bedeutet aber auch eine ständige Unsicherheit für solche Initiativen. Projekte wie dieses oder Sensibilisierungsprogramme wie die demenzfreundliche Gemeinde Klosterneuburg in Niederösterreich bleiben daher auch die Ausnahme hierzulande.

Das politische Bewusstsein für eine der größten Aufgaben einer alternden Gesellschaft fehlt noch. Will man dieser Herausforderung gerecht werden, muss dieses aber schnell her, so gesehen ein gemeinsames Leben Lernen mit dem Vergessen. Die Demenz lässt sich nicht aufhalten.