Ein Land auf Suche nach sich selbst. | Von Rot-Grün zu Schwarz-Rot. | Berlin. Deutschland ist nicht mehr europäisches Musterland. Schlusslicht beim Wachstum, fünf Millionen Arbeitslose, Maastricht in weiter Ferne. Deutschlands Kapital verpflichtet - zu gar nichts! Traditionsfirmen pfeifen auf Patriotismus, wenn sie woanders billiger produzieren können, Manager pfeifen auf Moral, gönnen sich Millionen-Provisionen, während sie tausende Arbeiter in die Wüste schicken.
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Deutschland ist nicht mehr Insel der Seligen, in Afghanistan werden seine Söhne ermordet, im Irak seine Töchter entführt, obwohl sich das Land da rausgehalten hat. Neue Achsen nach Paris und Moskau verärgern die alte transatlantische Schutzmacht, beunruhigen Polen und Balten.
Wer bist du, Deutschland? Alte Identitäten und Muster versagen. Beide Großparteien werden von "Ossis" gelenkt. Ex oriente lux?
Was sonst nur Ausnahmezuständen vorbehalten ist: Schwarz-Rot regiert das Land. Ziehen verfeindete Lager plötzlich an einem Strang? Oder werden Reformen auf dem Altar dem compromesso storico von Feuer und Wasser geopfert?
Abwahl trotz richtiger Reformschritte
Schröder setzt richtige Schritte, reformiert den verstaubten Arbeitsmarkt - und wird dafür abgewählt. Als auch noch das rote Kernland Nordrhein-Westfalen kippt, will er's wissen, fleht seine Genossen ums Misstrauen an, damit er weiterregieren kann.
Er will erst nicht begreifen, dass er auch diese Wahl verloren hat und verdrückt beim Zapfenstreich zwei Tränen, die ein Aufsichtsratsposten beim russischen Gaskonzern trocknen helfen. Der "Genosse der Bosse" will endlich selbst Big Boss werden.
"Du bist Deutschland" - die Medien-Kampagne zur Förderung des deutschen Patriotismus, sie ist grottenschlecht gemacht, aber sie hat den Kern dieses Jahres getroffen: Deutschland war 2005 auf der Suche nach sich selbst. Wer sind wir? Sind wir Papst? Sind wir Bundeskanzlerin?
Glückliches Deutschland, das in diesem Sinnvakuum keine charismatische Führerfigur, keinen Gröfaz, gebiert! Der Papst lächelt scheu, die Bundeskanzlerin lächelt nicht immer, aber immer öfter. Gysi und Lafontaine - übereinander gestellt - erreichen mühsam Gardemaß, nebeneinander nicht einmal eine kluge Opposition. Wir wünschen dir, Deutschland, für das neue Jahrfünft nicht Mittelmaß, aber Augenmaß; du musst nicht Weltmeister sein um weltoffen zu werden; du musst nicht denken, Standort ersetzt Standpunkt. Mit Merkel wirst du nicht zwingend Primus, aber vielleicht prima?