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Die Residenzpflicht soll die Integration von Flüchtlingen verbessern, könnte aber Chancen auf dem Arbeitsmarkt einschränken.
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Wien. "Wir sind das klassische Beispiel", sagt Christian Kogler, ehemals Bürgermeister der kleinen Gemeinde Puchenstuben in Niederösterreich. "Kaum war der Bescheid da, hat es die Flüchtlinge nach Wien gezogen." Im Vorjahr ist Wien um rund 45.000 Einwohner gewachsen. Wenn auch heuer wieder zwei von drei anerkannten Flüchtlingen in die Hauptstadt wandern, wird das Wachstum weiter anziehen. Wo sollen sie wohnen? Wo arbeiten?
Geht es nach den Vorstellungen von Sozialminister Alois Stöger (SPÖ), soll die Wahl des Wohnortes für Asylberechtigte künftig eingeschänkt werden. Sie sollen nur mehr in dem Bezirk Anspruch auf Mindestsicherung erhalten, in dem sie als Asylwerber untergebracht waren. Im Beispiel Puchenstuben wäre dies der Bezirk Scheibbs. Kogler arbeitet mittlerweile für das auf Asylunterbringung und -betreuung spezialisierte Unternehmen SLC-Asylcare, das in ganz Niederösterreich tätig ist. Er glaubt nicht, dass so eine Residenzpflicht umsetzbar wäre. "Im Bezirk Scheibbs gibt es viele kleine Orte, die wären völlig überfordert."
Die Hauptstadt lockt
Das Problem aus Sicht der Flüchtlinge: Sobald sie anerkennenden Status haben, müssen sie binnen vier Monaten auf eigenen Beinen stehen, sie benötigen also Wohnraum und Einkommen. In Wien stehen die Chancen darauf besonders schlecht. Nirgendwo ist Wohnraum teurer, nirgendwo die Arbeitslosenquote so hoch. Dass dennoch so viele Flüchtlinge nach Wien ziehen, hängt, erstens, wohl damit zusammen, dass die Chancen in der Großstadt subjektiv überschätzt werden, vor allem aber, zweitens, damit, dass es einen großen informellen Wohnungs- und Arbeitsmarkt in Wien gibt. Gerade in der ersten Phase wohnen viele Asylberechtigte bei Bekannten und Verwandten und arbeiten schwarz.
Gerhard Kirchmaier ist Bürgermeister von Heidenreichstein, das schon seit vielen Jahren ein Flüchtlingsheim beherbergt. Es wohnen rund 100 Asylwerber dort. "Familien haben sich schon hier angesiedelt", erzählt er. Die Ortschaft im Waldviertel kann mit günstigen Mieten aufwarten. Laut Kirchmaier maximal sechs Euro pro Quadratmeter, meistens aber die Hälfte davon.
Das hat allerdings einen Grund. Arbeitsplätze gibt es in Heidenreichstein und Umgebung grundsätzlich wenige, und ohne Auto - das muss man fahren dürfen und sich leisten können - ist die Auswahl noch einmal deutlich geringer. Das Mobilitätsproblem ist in ländlichen Gebieten evident und darf nicht unterschätzt werden. Schließlich will die Politik, dass die Flüchtlinge so schnell wie möglich Arbeit finden.
Chance für Gemeinden
Heinz Faßmann, der Vorsitzende des Integrations-Expertenrates und Vizerektor der Uni Wien, ist einer Residenzpflicht nicht abgeneigt - aus integrationspolitischen Gründen. "Integration im ländlichen Raum funktioniert besser", sagt er. "Man sollte das zivilgesellschaftliche Engagement am Land nicht unterschätzen."
Aus arbeitsmarktpolitischer Perspektive liegt die Sache anders, wie Faßmann ergänzt: "Als Ökonom würde ich sagen: alles, das die Vermittlungskapazität stärkt, und das ist die Flexibilität, ist gut. Wenn ich die Flüchtlinge irgendwo festbinde, behindere ich ihre Flexibilität." Deshalb und aus grundrechtlichen Bedenken kommt für Faßmann nur eine befristete Residenzpflicht in Frage.
Auch im Sozialministerium wird eine zeitliche Einschränkung erwogen. Sobald ein Flüchtling anderswo eine Arbeit findet, könne er sich aber ohnehin zu jeder Zeit überall in Österreich niederlassen. Zu bedenken geben Arbeitsmarktexperten wie AMS-Chef Johannes Kopf, dass nach einiger Zeit der Arbeitslosigkeit eine Verfestigung eintritt und selbst eine Stelle anderswo dann nicht mehr angenommen wird: Die Kinder gehen in die Schule, ein Elternteil hat eine kleine Stelle erhalten oder arbeitet schwarz. Wer sich eine bescheidende Existenz aufgebaut hat, wird diese nicht so leicht aufs Spiel setzen.
Mit einer Residenzpflicht würde die Regierung die tatsächliche Niederlassungsfreiheit von Flüchtlingen einschränken und sie, in gewisser Weise, zu ihrem Integrationsglück zwingen. Das kann gut gehen - oder aber die Zahl der arbeitslosen Flüchtlinge erhöhen. Für ländliche Gebiete, vor allem für Abwanderungsgemeinden, bietet sich durch die Residenzpflicht auch eine Chance. Ex-Bürgermeister Kogler sagt: "Jeder einzelne Wirt sucht und findet niemanden." Flüchtlinge könnten in Landgasthöfen einspringen, wo es an mithelfenden Familienmitgliedern fehlt, weil die Kinder weggezogen sind.
Heidenreichstein ist eine klassische Abwanderungsgemeinde. Bürgermeister Kirchmaier sagt: "Wir wären glücklich, wenn Familien bleiben würden, das ist gut für den Schulbereich." In der örtlichen Hauptschule/NMS waren im Jahr 2012 noch 126 Schüler gemeldet, im Vorjahr waren es nur mehr 94.