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Nirgendwo sonst klafft in Europa ein so großer Widerspruch zwischen Anspruch und Praxis wie im Bereich der gemeinsamen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP). Auf dem Papier jederzeit bereit, die Probleme der ganzen Welt zu schultern, scheitert die Europäische Union in aller Regel schon an der Formulierung gemeinsamer Interessen und Standpunkte. Mit der zukünftigen Entwicklung der ESVP hat sich nun ein mit hochrangigen Experten besetzter "Workshop" des Büros für Sicherheitspolitik des Landesverteidigungsministeriums in Reichenau an der Rax befasst.
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Europa hat viele Ziele: Wohlstand, Reichtum und seit einiger Zeit auch eine Rolle auf der Weltbühne. Doch während der Binnenmarkt längst schon Wirklichkeit geworden ist und die Erweiterung als ständiger Prozess funktioniert, befindet sich die ESVP noch weitgehend im konzeptionellen Zustand. In der Realität reicht es nur für Übungseinheiten auf - mittlerweile wieder - sicherem Terrain wie derzeit auf dem Balkan.
Die Zukunft der ESVP ist für Erich Reiter, Gastgeber und Leiter des Büros für Sicherheitspolitik, untrennbar mit zwei Fragen verbunden: Welche Entwicklung nimmt das globale internationale System und welches Bild gibt sich Europa von sich selbst? Notwendig werde die ESVP aufgrund einer aktiven europäischen Außenpolitik, wie sie die erklärte Absicht des deutsch-französischen Tandems ist. Dadurch werde auch Europa zum Ziel strategischen Terrors.
Hochfliegende Träume
Der Entwurf für eine Militärstrategie der EU, den der derzeitige Verantwortliche für die EU-Außen- und Sicherheitspolitik von Javier Solana verfasst hat und der beim Gipfel in Thessaloniki im Dezember 2003 gebilligt wurde, verkörpert die hochfliegenden sicherheitspolitischen Träume der Union. Bedrohungen sollen auf globaler Ebene abgewehrt, die eigene unmittelbare Nachbarschaft stabilisiert und ein Beitrag zu einer Weltordnung auf der Grundlage eines Multilateralismus unter UNO-Mandat geleistet werden.
Ein bisschen viel auf einmal findet nicht nur Peter Schmidt von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Seiner Ansicht nach will das Solana-Papier zwar "all die Probleme dieser Welt schultern", gibt jedoch keine Antwort darauf, wie dies von der EU geleistet werden könnte. Dementsprechend gilt für Schmidt: "Wenn man das Solana-Papier ernst nimmt, überfordert es systematisch die Entscheidungsstrukturen der Union."
Viele offene Fragen
"Wer sich in einem militärischen Konflikt engagiert, muss wissen, wie er wieder herauskommt", umreißt Lothar Rühl, langjähriger Staatssekretär im deutschen Verteidigungsministerium während der 80er Jahre und Mitglied zahlreicher sicherheitspolitischer "Think Tanks", die Anforderungen an die ESVP. Dazu gehört für ihn notfalls auch die Fähigkeit zur militärischen Eskalation, um taktische oder strategische Ziele zu erreichen. Darüber habe in Europa noch niemand nachgedacht, "allein schon der Begriff Eskalation schreckt die Europäer ab". Doch wer eingreife, müsse auch durchgreifen, ist sich Rühl sicher.
Angesichts solch weit reichender Dimensionen der ESVP stellt sich das spezifische Entscheidungsproblem der EU in neuer Schärfe. "Die EU braucht einen strategischen Katalog, wie die notwendigen Entscheidungen herbeigeführt werden, wenn etwas passiert", ist Rühl überzeugt. Die derzeit notwendigen zeit-, nerven- und energieraubenden Debatten zwischen den Mitgliedsstaaten ohne klare Ergebnisse sind fehl am Platz, wenn es um Fragen von Krieg oder Frieden geht. Konsequenterweise müsste dies zu einem Bruch mit dem Konsensprinzip in der EU führen, da solche Entscheidungen nicht in Brüssel zentralisiert, sondern von den nationalen Regierungen getroffen werden müssen. In weiterer Folge wäre ein Kerneuropa der "ESVP-Willigen und -Fähigen" wohl unausweichlich, so Rühl.
Was den weiteren Weg hin zur ESVP angeht, so gibt sich Schmidt keinen Illusionen hin: "Politik war schon immer ein Durchwursteln." Dass sich dieses Gefühl derzeit besonders stark einstelle, erklärt er mit der "gewissen Leichtfertigkeit", mit der die Politik vorgebe, die Vertiefung und Erweiterung der Union gleichzeitig bewältigen zu können. Dabei bleibe jedoch offen, wie dies bewerkstelligt werden könnte.
Für die Zukunft rechnet Schmidt daher mit einer bunten Mischung aus Flexibilität, souveränitäts-schonender Kooperation mit einigen kerneuropäischen Ansätzen. Für unwahrscheinlich hält er dagegen die institutionelle Verankerung eines deutsch-französischen Kerneuropas, da dies - indem es zur Gegengewichtsbildung nach dem Beispiel Spanien-Polen einlädt - zur Desintegration der EU beitragen würde.
Und Österreich?
Reiter sieht bei der ESVP für Österreich und andere kleine Staaten einen mentalen Vorteil, da man sich hier längst von einer nationalen Sicherheitspolitik verabschiedet habe. Die Notwendigkeit einer Mitwirkung Österreichs an der ESVP sieht Josef Janning von der Bertelsmann Stiftung in der dauerhaften Nettozahlerrolle Österreichs begründet: Diese "bedingt ein aktives Integrationsengagement Österreichs", selbst wenn dies bedeute, eigene nationale Anliegen - wie das Prinzip ein Kommissar pro Land oder die Neutralität - zu opfern.