70 Prozent aller verschuldeten Personen in Wien sind fremdsprachig.
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Wien. Wer wenig Bildung hat, schlecht Deutsch spricht und gerne Geld ausgibt, kann schnell Opfer der Konsumgesellschaft werden. "70 Prozent der verschuldeten Menschen in Wien haben eine andere Muttersprache als Deutsch", berichtet Alexander Maly, Geschäftsführer der Schuldnerberatung Wien - eine der zehn staatlich anerkannten Schuldnerberatungen in Österreich. Sie bietet Privatpersonen kostenlos Hilfe zur Selbsthilfe an.
Schulden hängen häufig mit dem Bildungsgrad zusammen, meint Maly. Die meisten seiner Klienten haben einen Pflichtschulabschluss, die wenigsten sind Akademiker. Hinzu kommt die steigende Komplexität des Alltags. Verträge - auch von Mobilfunkbetreibern - können mitunter kompliziert formuliert sein. "Keiner liest die Vertragsklauseln, es ist viel Vertrauen dabei", sagt Maly. Dabei muss keiner Rechtsgeschäfte eingehen, die er nicht will oder nicht versteht, wie es bei Kshirin Gupta aus Indien der Fall war.
Bei ihr mutierte eine Handyrechnung von rund 50 Euro Anfang 2011 auf zirka 1200 Euro im Sommer, die das Inkassobüro von ihr verlangte. Sie hatte nicht zu viel telefoniert, sondern einen Vertrag mit zweijähriger Bindungsfrist unterschrieben. "Den Vertrag konnte ich schlecht verstehen. Ich wollte einfach ein neues Handy", erzählt Gupta. Nachdem sie die ersten Rechnungen nicht bezahlen konnte, wurde ihr Vertrag vom Mobilfunkanbieter gekündigt. Doch nun muss sie dennoch das vereinbarte Entgelt für zwei Jahre zahlen. Da Gupta derzeit auf Arbeitssuche ist, wurde eine Ratenzahlung mit dem Inkassobüro vereinbart. Sie wird 20 Euro monatlich für eine Dienstleistung bezahlen, die sie nicht in Anspruch nimmt - nur deshalb, weil sie den Vertrag nicht verstanden hat.
Ein Handy-Vertrag stürzte sogar eine Mitarbeiterin der Schuldnerberatung in Probleme. Ihre Tochter fuhr in die Türkei. Mit dem Mobilfunkanbieter war vereinbart worden, dass bei Kosten von 60 Euro eine SMS-Warnung verschickt wird. Diese ist nie angekommen, dafür eine Rechnung von 800 Euro. Eine Benachrichtigung sei nur innerhalb der Europäischen Union möglich, betonte der Betreiber. Auf die Frage, wie das die Kundin wissen könne, wurde salopp auf das Lesen der Allgemeinen Geschäftsbedingungen verwiesen. Nach einer Klage wurde die Summe gemindert.
Früher galt das Kleingedruckte als gefährlich. "Heute sagt die Rechtssprechung, dass Verträge, die man im Alltag eingeht, verstehbar sein müssen und nicht von einer für den Konsumenten undurchschaubaren Komplexität durchdrungen sein sollten", erzählt Maly.
Bank forderte 820.000 Euro
Ein weiterer Grund für die Anhäufung von Schulden ist Arbeitslosigkeit. Meistens schickt das AMS die Betroffenen zur Schuldnerberatung Wien. Dort stehen 30 Berater zur Verfügung, die neben Deutsch auch Serbisch, Türkisch, Kroatisch und Englisch sprechen. "Die meisten Gespräche müssen aber auf Deutsch geführt werden. Fachtermini wie Privatkonkurs sind in den Herkunftsländern oft nicht bekannt", betont Maly.
Im ersten Halbjahr 2011 wurden bei der Schuldnerberatung 10.412 Beratungsgespräche mit 5883 Kunden geführt. Die Mitarbeiter der Schuldnerberatung sind auch mit Extrembeispielen konfrontiert: Eine Migrantin hat vor 15 Jahren einen Kredit aufgenommen und lange nicht bedienen können. Die Bank klagte auf 35.000 Euro. Nachdem die Frau diese und weitere Forderungen ignoriert hatte, wuchs der Betrag in 15 Jahren auf 820.000 Euro an. "Das ist eine absurde Forderung", meint Maly. Die betroffene Person hat Privatkonkurs angemeldet; die Summe wurde mehrmals verhandelt. In den nächsten sieben Jahren wird sie schuldenfrei sein.
"Hätte ich vor Jahren Deutsch gekonnt und wäre ich nicht so gutgläubig gewesen, hätte ich nicht Schulden angehäuft", meint Ivan Nikolic aus Ex-Jugoslawien im Rückblick. Er war Bürge für den Kredit eines Freundes, den dieser aber nicht zurückzahlen konnte. Jetzt lebt Herr Nikolic mit 16.000 Euro Schulden und muss jeden Monat 200 Euro von seinem Arbeitslosengeld der Bank überweisen. Nach einem Autounfall blieb er lange arbeitsunfähig. Der Wiedereinstieg in ein Arbeitsverhältnis mit regelmäßigem Einkommen ist für ihn eine Herausforderung.
Konsum und Statussymbole
Bei der Schuldnerberatung wird versucht, nicht ins Detail zu gehen und etwa über alle Einzelheiten eines Privatkonkurses zu informieren. Die Gesetzgebung lässt sich nicht leicht auf ein einfaches Niveau reduzieren. Es werden die wichtigsten Grundlagen für Schuldenabbau vermittelt. Die Berater unterscheiden zwischen "gefährlichen" und "normalen" Schulden. "Gefährlich" sind Schulden mit sehr unangenehmen Konsequenzen, wie Rückstände bei Miete, Strom, Gas, Heizung, Unterhaltszahlungen, offene Geldstrafen. "Normale" Schulden können erst dann geregelt werden, wenn es keine "gefährlichen" Schulden mehr gibt.
Auch der Konsumrausch kann Grund für Überschuldung sein. Dies trifft besonders auf die Klientel von unter 41 Jahren zu, die durch Konsum und den Besitz von Statussymbolen versucht, soziale, ökonomische und kulturelle Ungleichheiten zu überbrücken.
Bis 2008 sind Privatverschuldungen angestiegen. "Die Überschuldung wird maßgeblich von den Kreditinstituten beeinflusst - Kredite waren in den letzten 20 Jahren relativ leicht zugänglich", erzählt Alexander Maly. "Nach der Wirtschaftskrise gab es einen Einbruch, die Banken sind bei der Vergabe von Krediten vorsichtiger geworden." Seither blieb die Privatverschuldung auf konstant hohem Niveau. Die Durchschnittsverschuldung der Betroffenen beträgt zurzeit 44.000 Euro.