Die Kommission entscheidet heute in Brüssel über eine Klage gegen den EU-Finanzministerrat wegen des Stabilitätspakts. Muss sich tatsächlich der Europäische Gerichtshof (EuGH) mit der Sache befassen, wäre dies ein einmaliges Vorgehen.
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Eine knappe Mehrheit der 20 Kommissionsmitglieder ist dem Vernehmen nach dafür, den EU-Finanzministerrat (Ecofin) zu klagen. Die heutige Entscheidung benötigt nur eine einfache Mehrheit. Für unabwendbar hält Erweiterungskommissar Günter Verheugen eine Klage gegen den Rat: Kommissionspräsident Romano Prodi und Wirtschafts- und Währungskommissar Pedro Solbes hätten sich bereits darauf festgelegt. "Ich rechne also damit, dass die Entscheidung so ausgehen wird, wie es Prodi und Solbes vorschlagen", so Verheugen. Er selbst ist gegen eine Klage: Das führe zu einer unnötigen Verschärfung der Situation innerhalb der EU.
Es geht um den Beschluss der EU-Finanzminister vom 25. November, den Stabilitätspakt auf Eis zu legen. Damit wollten die Finanzminister der Euroländer dem Defizitverfahren gegen Deutschland und Frankreich vorerst einen Riegel vorschieben und dieses nicht weiter verfolgen. Rechtsexperten der Kommission ebenso wie des EU-Ministerrates halten dies für eine unzulässige Vorgangsweise - wobei die beiden Organe unterschiedlich argumentieren.
Die Kommission hat in der Union das alleinige Initiativrecht - und ist gleichzeitig "Hüterin der Verträge". Sie sieht ihre Rechte durch den Rat (der Finanzminister) verletzt. Denn der Ministerrat könne nur auf Grundlage ihrer Vorschläge positiv oder negativ entscheiden, er dürfe aber nicht unabhängig davon eigene Positionen festsetzen. Die EU-Verträge sehen vor, dass alle Entscheidungen der Ministerräte von der Kommission vorbereitet werden.
Auch Juristen des Rates selbst kritisieren die Entscheidung der Finanzminister, das Defizitverfahren gegen Deutschland und Frankreich auszusetzen. Die Finanzminister hätten laut dem "Defizitparagrafen" im EU-Vertrag (Artikel 104) die Möglichkeit gehabt, die Empfehlungen der Kommission zurückzuweisen. Die Verabschiedung eines gänzlich neuen Textes (der neue Sparzusicherungen von Paris und Berlin enthält) sei jedoch nicht in den Verfahrensabläufen vorgesehen.
Die Kommission sieht offenbar wesentliche Formvorschriften des EU-Vertrags verletzt. Bisher hat es keine Klage der Kommission gegen den Rat, also das Organ der EU-Länder, gegeben. Sollte tatsächlich der Gerichtshof in Luxemburg mit der Frage befasst werden, ist der Ausgang des Verfahrens sowohl aus juristischer als auch aus politischer Sicht völlig offen.
Verfahren vor dem EuGH dauern rund zwei Jahre; dann wäre längst eine neue Kommission im Amt. Im Eilverfahren kann binnen weniger Monate entschieden werden, falls der Gerichtshof-Präsident ein solches wegen "besonderer Dringlichkeit" genehmigt. Für Österreichs Finanzminister Karl-Heinz Grasser wäre eine Klage das "falsche politische Instrument". Befürchtet wird zudem eine weitere Verschärfung des Konflikts zwischen der Kommission und den beiden großen EU-Ländern. Nimmt die Kommission Abstand von einer Klage, aber auch bei einem negativen Urteil würde sie als "zahnlose" Hüterin dastehen.