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"Wer ist so irre, wählen zu gehen?"

Von Heidi Vogt

Politik

Lokalaugenschein in Wahllokalen. | "Die Wahl wird nichts ändern." | Kabul. (ap) Mohammad Aslam steht vor einem Wahllokal im Osten von Kabul - und wagt sich nicht hinein. "Heute Morgen gab es dort eine Explosion und Kämpfe", sagt der 30-jährige Händler und zeigte auf das Wahllokal in einer Moschee. "Niemand ist so verrückt, dort hinein zu gehen. Es ist besser, zu Hause zu bleiben." Wie Aslam lassen sich am Donnerstag viele Afghanen von den Anschlagdrohungen der Taliban davon abhalten, bei der Präsidentenwahl ihre Stimme abzugeben.


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Die Wahlbeteiligung ist nach bloßem Augenschein deutlich niedriger als bei der ersten direkten Abstimmung 2004. Damals hatten sich vor den Wahllokalen noch lange Warteschlangen gebildet, in einer Schule im Osten der Hauptstadt hatte es einen regelrechten Ansturm gegeben.

Diesmal ist um sieben Uhr Früh alles bereit, aber kein einziger Wähler erscheint. Der Inhaber eines nahe gelegenen Geschäfts sagt, er sehe keinen Sinn darin, seine Stimme abzugeben. "Ich wähle nicht. Es wird sich nichts ändern in unserem Land", meint der 30-jährige Mohammad Tahir. Andere aber lassen sich nicht abschrecken, auch nicht in der Taliban-Hochburg Kandahar im Süden des Landes. "Ich hatte Angst davor, zu kommen und meine Stimme abzugeben", sagt Jamila Bibi. "Aber mein Vater hat mich ermutigt: ,Sei tapfer, du bist eine afghanische Frau, du solltest Vertrauen haben. Ich werde zurückgehen und anderen sagen, dass sie kommen und wählen sollen, weil es keine Probleme gegeben hat."

Wahl mit Angst und Stolz

Mohammad Zahir stimmt in einer Schule im Osten von Kabul für Ramazan Bashardost, einen ehemaligen Minister, der den Kampf gegen die Korruption zu seinem wichtigsten Wahlkampfthema gemacht hatte. "Er hat sich in der Debatte wirklich gut geschlagen", sagt Zahir. "Seine Worte haben für mich Sinn ergeben."

Diejenigen, die sich trotz der Gewaltdrohungen zur Wahl wagen, tun dies mit einer Mischung aus Stolz, Angst und Hoffnung. "Ich weiß, dass die Sicherheitssituation in meinem Land nicht gut ist, aber ich habe mich entschieden, heute trotzdem zu kommen und zu wählen", sagt der 32-jährige Shukran Ahmad vor einem Wahllokal im Westen der Hauptstadt.

"Ich wollte der Erste sein, der heute hier in diesem Wahllokal seine Stimme abgibt." Vier seiner Angehörigen wollen ebenfalls zur Wahl gehen, darunter auch seine Mutter und seine Schwester.

In der relativ sicheren Stadt Mazar-i-Sharif im Norden strömen Wähler an die Urnen. "Ich war gestern Abend so aufgeregt. Ich konnte nur an (die Wahl) heute denken", sagt die 20-jährige Erstwählerin Scahima Haidari. Sie stimmt für den früheren Außenminister Abdullah Abdullah, den Exponenten der Nordallianz und schärfsten Rivalen von Amtsinhaber Hamid Karzai. Mazar-i-Sharif gilt als Hochburg Abdullahs. Enayatullah Staniksai hingegen gibt Karzai seine Stimme. "Er (Karzai) ist ein guter Mann für die Zukunft von Afghanistan", sagt Staniksai, der von seinem 15-jährigen Sohn begleitet wurde. "Er hat unserem Land die Einheit gebracht. Mein Sohn hat mich gebeten, ihm das Wahllokal zu zeigen. Er war so interessiert, er hat gesagt: ,Wenn ich 18 werde, will ich wählen gehen."

Vor einem anderen Wahllokal im Westen von Kabul nähern sich einige Wähler vorsichtig, bleiben 50 Meter vor dem Gebäude aber erst einmal stehen, um die Lage zu prüfen. "Ja, wir werden wählen", sagt der 35-jährige Abdul Rahman und zeigt seine Wahlkarte. Er will aber abwarten, bis eine größere Gruppe hineingegangen und sicher wieder herausgekommen ist. "Wenn etwas passiert, wollen wir nicht zu nah dran sein", so Rahman.

Der Amtsinhaber

Der 51-Jährige Hamid Karzai ist der amtierende Präsident Afghanistan. Mit rund 45 Prozent der Stimmen liegt er in den Umfragen zwar klar voran, doch ist fraglich, ob er im ersten Anlauf die absolute Mehrheit erringt. Die Verärgerung vieler Bürger über die grassierende Korruption hat der Popularität Karzais geschadet. Er selbst gilt als nicht korrupt, toleriert jedoch fragwürdige Machenschaften seiner Minister und holte auch Kriegsherren in sein Kabinett. Karzai studierte Politikwissenschaft an der Himachal-Universität in Indien. Er setzte sein Studium in Frankreich fort und schloss es in den USA ab, was ihn international beliebt machte. Er organisierte auch den afghanischen Widerstand gegen die Sowjets. 2001 nach der Taliban-Entmachtung durch die westliche Invasion zum Übergangspräsidenten bestimmt, wurde Karzai 2004 für fünf Jahre ins Amt gewählt. Die Einsetzung des Paschtunen, der als Vertrauensmann des mächtigen pakistanischen Geheimdienstes galt, dürfte Ergebnis eines Kompromisses zwischen der CIA und der pakistanischen Armee gewesen sein. Foto: reuters

Der schärfste Konkurrent

Der 48-jährige Abdullah Abdullah war afghanischer Außenminister unter Präsident Hamid Karzai. Er bekleidete dieses Amt von 2004 bis 2006, zerstritt sich jedoch mit Karzai. Abdullah liegt in den Umfragen bei etwa 25 Prozent und könnte Karzai zu einer Stichwahl im Oktober zwingen. Abdullah studierte Augenheilkunde an der Universität Kabul und promovierte 1983. Danach war er dort bis 1985 als Augenarzt tätig und arbeitete später mit afghanischen Flüchtlingen in Pakistan, wo er auch mit dem antisowjetischen Widerstand in Kontakt kam. Er war führendes Mitglied der tadschikisch dominierten Nordallianz, die 2001 die Taliban stürzen half. Der Sohn eines Paschtunen und einer Tadschikin gilt als Favorit der Tadschiken, die rund ein Viertel der Bevölkerung ausmachen. Abdullah hat in Aussicht gestellt, mit der Korruption aufzuräumen, und strebt ein parlamentarisches System an. Abdullah ist vor allem für junge Afghanen Symbol der Hoffnung auf eine Regierung ohne die älteren Mudschaheddin-Führer und Kriegsfürsten. Er will weg vom patriarchalen Karzai-System. Foto: reuters