Nachdem die Mitgliedschaft in der EU eine freie Entscheidung der Wählerschaft der Mitgliedsländer ist, erhebt sich die Frage, was die Stimmung in Österreich und anderen EU-Ländern gedreht hat; der Stimmungsumschwung ist in der jüngeren Vergangenheit deutlich festzustellen (in Österreich genügt ein Blick auf die Leserbriefseiten der "Krone"). Der Beitritt Österreichs, man vergesse das nicht, wurde von mehr als zwei Dritteln der Wahlbevölkerung gutgeheißen.
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Wie gelang es den Gegnern des europäischen Einigungswerks, innerhalb weniger Jahre die Grundstimmung so umzudrehen, dass schon einiger politischer Mut benötigt wird, wenn bei den bevorstehenden Europa-Wahlen eine Partei (in Österreich nur eine einzige) sich als überzeugte Europapartei zu präsentieren wagt.
Ohne Zweifel ist die EU-Ablehnung oder -Skepsis vieler Parteien in Europa nicht durch prinzipielle Überzeugungen begründet, sondern vielmehr mit Blick auf mögliche Vorteile auch oder vor allem bei innerstaatlichen Wahlen (siehe britische Konservative April 2009 oder SPÖ 2008 beim Kotau vor der "Kronenzeitung"). Diese Art der politischen Agitation macht sich verschiedenste Motive der Wähler zu Nutze: kleinräumiges Denken (Provinzialismus), unreflektierte Xenophobie, unaufgearbeitete Geschichte (manche schaffen es bis heute nicht, ein gutes Nachbarschaftsverhältnis à la Frankreich-Deutschland herzustellen; Vorurteile gegen andere werden mit Hingabe gepflegt, wenn nicht ökonomische Grunde dagegensprechen; das Motiv der "guten alten Zeit" (Schillingnostalgie); ideologische Schlagworte: "Mensch statt Markt", "EU muss sozialer werden"), "EU? Vertreterin neoliberaler Ideologie"; aber überall dort, wo die Krise hart zuschlägt, wird mit der Hilfe der EU gerechnet - da gibt es kein "mir san mir" mehr; moderne Legenden: Euro - Teuro (ja, es stimmt, viele haben die Umstellung raschestmöglich für Aufrundungen benutzt. Die Slowakei zeigt zur Zeit vor, wie die Umstellung korrekt vollzogen werden kann); schlussendlich bieten die tatsächlichen Schwächen der EU den Gegnern und Skeptikern Angriffsflächen: Korruption, überbordende Bürokratie, schwere Mängel in der Selbstdarstellung und Politikpräsentation. Dazu kommen billige Schuldzuweisungen durch nationale Politiker.
Die Frage nach der moralischen Begründung von Politik stellt sich im Zusammenhang mit der EU-Wahl ganz klar: Ist das Ziel der Politik in einer Demokratie nur die Anpassung an herrschende Meinungen und labile Stimmungen, oder hat Politik auch gestaltend zu wirken? Soll der Wahlwerber sich den Wählern und ihren Vorurteilen, Zu- und Abneigungen widerstandslos aussetzen oder soll er sie überzeugen von dem, was er für richtig hält? Es scheint, dass in Europa zurzeit die erste Tendenz überwiegt. Am Abend des 7. Juni werden wir es wissen.
Rudolf Teltscher studierte Philosophie, Psychologie und Anthropologie und berät Unternehmen in Russland und der Slowakei.