An Zahl der Stimmenthaltungen wird Widerstand gegen das Regime gemessen.
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Kairo. Zum dritten Mal in drei Jahren, seitdem Ägyptens Langzeitpräsident Hosni Mubarak gestürzt wurde, waren rund 53 Millionen Wahlberechtigte aufgefordert, über eine neue Verfassung abzustimmen. Das Referendum am Dienstag und Mittwoch lief unter enormen Sicherheitsvorkehrungen ab. 360.000 Sicherheitskräfte waren landesweit im Einsatz, um die rund 30.000 Wahllokale zu schützen und einen friedlichen Ablauf der Wahl zu garantieren. Trotzdem explodierte am ersten Wahltag ein Sprengsatz vor einem Gerichtsgebäude im Kairoer Bezirk Imbaba. Die Fassade des Hauses wurde zerstört, Menschen kamen nicht zu Schaden. Am Abend kam es in mehreren Provinzen zu Ausschreitungen. Mindestens elf Menschen wurden getötet.
Einer derer, die die Wahl boykottierten, ist Rami. Auf dem Schreibtisch des kleinen, hageren Ägypters im Ticket-Office einer privaten Busgesellschaft liegt die Ausgabe der ägyptischen Tageszeitung "Al Masry Al-Yom" mit dem Entwurf, über den die Nilbewohner mit Ja oder Nein votieren konnten. "Die vorige Verfassung war besser für mich", meint der 29-Jährige und zeigt die rot angestrichenen Stellen, die seine Ablehnung bewirken. Mit Artikel 76 wird die Gründung von Interessenvertretungen eingeschränkt, Artikel 77 erlaubt nur eine Arbeitnehmerorganisation pro Berufsgruppe. Rami ist kein Sympathisant der Muslimbruderschaft, geschweige denn ein Mitglied. "Aber Mursis Verfassung war für uns kleine Leute besser." Doch die nach dem Sturz des islamistischen Präsidenten Mohamed Mursi regierenden Militärs, mit General Abdul Fattah al-Sisi an der Spitze, setzen alles daran, dass ein überwältigendes Ja mit einer hohen Wahlbeteiligung herauskommt.
"Es wird so gut wie keine Nein-Stimmen geben", prophezeit Rami den Ausgang der Volksbefragung. Das Ergebnis wird erst am Wochenende feststehen. Wer mit "Nein" stimmt, bleibt zu Hause, hieß es.
Züge rollen wieder
Tatsächlich ist in ganz Kairo nicht ein einziges Plakat mit "Nein zur Verfassung" zu sehen. Die würden sofort wieder heruntergerissen, sagt ein Passagier, der bei Rami eine Fahrkarte nach Hurghada kauft. "Wenn du Kritik äußerst, beschimpfen sie dich gleich als Muslimbruder." Ramis Arbeitgeber macht zurzeit gute Geschäfte. Vier Monate lang war die Bahn in Ägypten nahezu stillgelegt, der Fernverkehr von Kairo in den Norden gänzlich unterbrochen. Nach der gewaltsamen Auflösung der Protestlager im August mit fast 1000 Toten sollte verhindert werden, dass noch mehr Demonstranten in die Hauptstadt stürmen und die Wiedereinsetzung Mursis ins Präsidentenamt fordern. Vor allem die Verbindungen nach Alexandria und ins Nildelta, einer Hochburg der Islamisten, waren den neuen Machthabern ein Dorn im Auge. Jetzt rollen die Züge zwar wieder, aber unregelmäßig. "Wir haben noch nie so viele Bustickets verkauft wie in den letzten Monaten", erzählt Rami. Die Nachfrage sei so groß gewesen, dass die Plätze im Nu ausverkauft waren und sein Chef sogar noch Kapazitäten anmieten musste. Aber in Ramis Geldbeutel hat sich das Umsatzplus nicht bemerkbar gemacht. Im Gegenteil. Die Preise seien seit gut zwei Jahren im Höhenrausch, aber die Löhne hielten nicht mit. Deshalb will Rami starke Gewerkschaften, die die neue Verfassung aber verhindere.
Allerdings ist für den sozialen Bereich erstmals festgeschrieben, dass die Regierung mindestens drei Prozent des Bruttosozialprodukts (BSP) für das Gesundheitswesen und mindestens vier Prozent für die Schulbildung vorsehen und diese Quote schrittweise erhöhen muss. Das ist ein Novum und könnte im Interesse von Rami und seiner Familie sein. Doch er befürchtet, wie einige revolutionäre Aktivisten der ersten Stunde mit ihm, dass diese Verfassung nichts am korrupten Oligarchen- und Klientelsystem Ägyptens ändern wird. Sie trägt keine ökonomischen oder sozialen Reformen. So findet die Tatsache, dass mehr als die Hälfte der etwa 83 Millionen Ägypter unter der Armutsgrenze leben, keinen Niederschlag in dem Text und ein wichtiges Ziel der Revolution, soziale Gerechtigkeit, findet auch keine Erwähnung.
"Das ist nicht demokratisch"
Inzwischen ist im Büro der Busgesellschaft, nicht weit vom Tahrir-Platz entfernt, eine lebhafte Diskussion über die Wahlbeteiligung entstanden. "Wenn wir nicht wählen gehen, bleibt Ägypten stehen", beschwört eine Frau mit lauter Stimme die noch Unentschlossenen. "Ich will, dass es weitergeht." Aber nicht unter diesen Voraussetzungen, meint eine andere. "Wenn man keine Kritik mehr äußern darf, ist das nicht demokratisch."
In den vergangenen Wochen sind neben hunderten Islamisten auch Dutzende linke Oppositionelle inhaftiert worden. Darunter der bekannte Anti-Mubarak- und Anti-Mursi-Aktivist Alaa Abd al-Fattah. Er kritisiert die Zuständigkeit von Militärgerichten für Zivilisten, wie sie auch der neue Verfassungsentwurf vorsieht, der den Militärs noch umfassendere Macht zubilligt als die Verfassung von 2012. Auch Ahmed Maher, mit seiner Bewegung 6. April legendäre Triebfeder der Revolution, landete Anfang Jänner mit drei weiteren Aktivisten der Gruppe im Gefängnis. Der Vorwurf: Landesverrat. Als Beweis dienen Handy-Abhörprotokolle aus der Zeit des Militärrats, der unmittelbar nach dem Sturz Mubaraks vor fast drei Jahren regierte. An den Nicht-Wählern misst sich also das Potenzial der Kritiker der regierenden Militärs. Rami findet das unmöglich. "Warum können wir nicht einfach frei mit Ja oder Nein stimmen?", fragt er. "Ägypten ist noch nicht so weit", antwortet ein älterer Herr mit Bart, der ein Ticket nach Alexandria kauft.