Im Herbst dürfen die ersten Gehörlosen eine Ausbildung zur Kindergarten-Assistenzpädagogik starten.
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Wien. Kann man Pädagogen die Aufsicht über eine Kindergartengruppe überlassen, wenn sie gehörlos sind? Kann man sie mit Unter-Sechsjährigen auf Exkursion schicken, wenn sie Zurufe und heranrollende Autos nicht hören? Können sie ein Instrument erlernen und mit den Kindern musizieren? Und - wie können Gehörlose mit Hörenden überhaupt kommunizieren?
Fragen und Bedenken wie diese waren es, die es bisher unmöglich machten, dass Gehörlose als Pädagogen im Kindergarten arbeiten. Sie durften nur Hilfsarbeiten übernehmen. Auf gesetzlicher Ebene war es der Passus der Berufseignung, an dem Gehörlose scheiterten. Denn dieser sieht Voraussetzungen vor, die sie nicht erfüllen.
Seit sieben Jahren setzt sich das Schulungs- und Beratungszentrum für Gehörlose und schwerhörende Personen "Equalizent" in Wien-Leopoldstadt verstärkt dafür ein, dass auch Gehörlose einen pädagogischen Beruf im Kindergartenbereich erlernen können. Mit Erfolg. Nach einem zehnmonatigen Vorbereitungskurs mit 30-Stunden-Wochen haben fünf von sieben Gehörlosen (darunter zwei Männer), die zur Aufnahmeprüfung an der Schule für Assistenzpädagogik der Stadt Wien angetreten sind, diese geschafft und werden im Herbst mit der Ausbildung beginnen. Mit dem Vorbereitungskurs allein haben sie bereits die Lizenz zum Kindergartenbetreuer.
Neues Berufsbildwurde geschaffen
Warum plötzlich möglich ist, worum lange gekämpft wurde, erklärt Projektleiterin Sabine Czasch von "Equalizent" so: Seit Einführung des verpflichtenden Kindergartenjahres 2010 herrsche ein Personalmangel an Pädagogen. Aufgrund dessen hat die Stadt Wien ein neues Berufsbild geschaffen, für das man im Gegensatz zu den anderen pädagogischen Berufen im Kindergartenbereich keine Matura braucht - und zwar jenes des Assistenzpädagogen, das seit Herbst 2015 erlernt werden kann.
"Das Gute daran war, dass die Ausbildung erst entwickelt werden musste, und wir uns dranheften konnten", sagt Czasch. Es gab also noch keine festgefahrenen Barrieren, die erst durchbrochen werden mussten. In der Schule für Assistenzpädagogik, die im Gebäude der Bildungsanstalt für Kindergartenpädagogik (Bakip) in Wien-Floridsdorf beheimatet ist, wird nun die gesamte dreijährige Ausbildungszeit hindurch ein Gebärdendolmetscher übersetzen. Dieser sowie der "Equalizent"-Vorbereitungskurs werden vom Sozialministeriumservice finanziert. Als fertige Kindergarten-Assistenzpädagogen werden die Gehörlosen nun nicht mehr nur Hilfsarbeiten wie Putzen und Kochen übernehmen. Sie werden die zweiten Aufsichtspersonen der Gruppe sein.
Bisher gab es nur die Ausbildung zur Kindergartenpädagogin, die in der Bakip für 13- bis 19-Jährige möglich ist, und die man mit Matura abschließt. Außerdem kann man ein Kolleg nach der Matura oder mit einer Studienberechtigungsprüfung absolvieren. Für die Ausbildung für nichtpädagogische Berufe wie Kindergartenhelferin existieren keine Schulungsstandards.
Tatsächlich herrscht laut dem Berufsverband der Kindergarten- und HortpädagogInnen (ÖDKH) akuter Pädagogenmangel. Laut Raphaela Keller vom ÖDKH gibt es um rund ein Drittel zu wenige Pädagogen. Schuld daran sei neben dem verpflichtenden Kindergartenjahr auch die Tatsache, dass nur 40 Prozent der Bakip-Absolventen in einem Kindergarten zu arbeiten beginnen. Bei jenen, die das Kolleg besuchen, sei die Quote zwar höher - die Absolutzahlen seien aber deutlich geringer.
Nur 30 der 480.000Hörbehinderten studieren
Offizielle Zahlen zum Personalmangel erfährt man allerdings nicht. Das liegt laut Keller daran, dass es die bundesweite Regelung gibt, jeden freien Posten mit einer "geeigneten Person im Kindergartendienst" zu besetzen, sofern keine Pädagogin verfügbar ist. Dadurch verschleiere man aber nur die Missstände. Das Betreuungsverhältnis von Pädagoginnen und Kindergartenkindern von 1:25 sei nämlich eindeutig zu niedrig, so Keller. Angestrebt werde 2:15.
Dass man für die Ausbildung zum Assistenzpädagogen keine Matura braucht, kommt den Gehörlosen entgegen. Denn der gleichberechtigte Zugang zu Bildung bleibt vielen noch immer verwehrt. Rund 480.000 gehörlose oder hörbehinderte Menschen gibt es in Österreich - 16 Prozent von ihnen haben nicht einmal einen Pflichtschulabschluss. Oder anders gesagt: Nur drei Prozent haben Matura, 30 Gehörlose studieren.
Schon im Kindergarten können die wenigsten in ihrer Erstsprache - der Gebärdensprache - sprechen: In Österreich gibt es nur einen einzigen bilingualen Städtischen Kindergarten mit Gebärdensprache als Muttersprache, und zwar in der Gussenbauergasse in Wien-Alsergrund. Bei den Schulen ist die Situation ähnlich. Die meisten gehörlosen Kinder werden daher mit den Hörenden einfach mitunterrichtet und erhalten nur parallel dazu Förderungen.
"Dadurch geht viel Wissen verloren", sagt "Equalizent"-Geschäftsführerin Monika Haider, "weil das Erlernen des Oralismus im Vordergrund steht." Oralismus bedeutet, dass Gehörlose vom Mund ablesen und selbst Sprechlaute bilden - also nicht in ihrer Sprache, der Gebärdensprache, kommunizieren können. In der Regel erlernt jeder Gehörlose den Oralismus, unterrichtet sollte er Haider zufolge aber in der Gebärdensprache werden.
Roxana Wimberger, eine jener Absolventinnen des Vorbereitungskurses, die die Aufnahmeprüfung zur Assistenzpädagogik-Ausbildung geschafft haben, hat genau das erlebt. "Ich bin in eine hörende Schule gegangen", erzählt die 24-Jährige. "Deutsch war das Problem." Fünf Jahre lang suchte sie Arbeit, ihr Traumberuf der Kindergartenpädagogin, wie sie sagt, schien unerreichbar. Als "Equalizent" den Vorbereitungskurs ausschrieb, meldete sie sich sofort an.
"Das war nichtmein Wunschberuf"
Christian Fischer musste noch länger darauf warten. Der heute 35-Jährige, der aus Deutschland kommt, musste als Jugendlicher Tischler lernen. "Das war nicht mein Wunschberuf. Aber es gab nicht viel Angebot", sagt er. Danach arbeitete er in einer Wäscherei, dann bei einer Hüpfburg. Damals wurde ihm bewusst, dass er gerne mit Kindern arbeiten würde. "Aber ich dachte, ich habe ohnehin keine Chance." Zumindest konnte Fischer anschließend in der Kinderabteilung eines Modegeschäfts arbeiten, "da habe ich auch gelernt, wie man mit den Eltern umgeht", sagt er. Angst davor, in seinem künftigen Beruf mit den Kindern oder Kollegen nicht kommunizieren zu können, hat er nicht. "In den zwei Wochen Praktikum unseres Vorbereitungskurses hat das reibungslos funktioniert. Die Erwachsenen waren am Anfang vielleicht etwas unsicher, aber das hat sich rasch gelegt. Und die Kinder haben die Gebärdensprache gleich verstanden."
Damit wäre eigentlich auch die eingangs erwähnte Frage nach der Kommunikationsfähigkeit beantwortet. Was die weiteren Bedenken betrifft: "In einer Kindergartengruppe sind ohnehin immer zwei Personen anwesend, die gemeinsam Aufsicht haben", sagt Haider. Und: Ja, auch Gehörlose können ein Instrument erlernen. Vor allem Akkordeon eigne sich gut, ergänzt Czasch. Aufgrund der Tasten sei es relativ einfach zu spielen, zudem könnten Gehörlose beim Akkordeon "auch etwas spüren". Allein beim Vorsingen, das eigentlich Teil der Aufnahmeprüfung ist, gab es einen Kompromiss. Die gehörlosen Teilnehmer mussten nicht singen, sondern inszenierten Gebärdenpoesie: eine Art Lyrik für Gehörlose. Vorgetragen mit Körpersprache.