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Wer nicht spurt, wird beseitigt

Von Arian Faal

Analysen

Beim "Islamischen Staat" ist fast jeder ist ersetzbar.|Die Kommunikationsstrategie der sunnitischen Terrormiliz wird immer professioneller.


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Mossul/Aleppo/Wien. Seit mehreren Jahren hält die sunnitische Terrormiliz "Islamischer Staat" nicht nur den Nahen und Mittleren Osten mit ihren Gräueltaten in Atem. Auch der Irrglaube, dass der IS nur "da unten im Orient", also weit weg von uns, agiert, wurde durch die Ereignisse der letzten Monate - Stichwort Anschläge in Paris - widerlegt:

Mittlerweile gibt es in Europa zahlreiche Nebenarme und Nachahmer, die unter dem "IS"-Deckmantel agieren, aber vom Koran und vom Islam wenig bis keine Ahnung haben. Summa summarum geht die straffe organisierte Miliz durchaus systematisch vor und baut in den eroberten Gebieten wie etwa in Teilen Syriens und des Irak staatsähnliche Gebilde auf und treibt von den Bewohnern immer mehr Steuern ein. Nicht zuletzt durch den internationalen Schulterschluss geht es dem "IS" laut Geheimdienstangaben ab dem 4. Quartal 2015 finanziell immer schlechter. Das lukrative Ölgeschäft gerät durch den Preissturz und die westlichen Bombardements auf IS-Ölfelder ebenfalls zunehmend in Bedrängnis. Dies zwingt die IS-Führung, zu immer radikaleren Maßnahmen wie massive Gehaltskürzungen und Enteignungen zu greifen.

Buhlen um die Vorherrschaft

Nichtsdestotrotz präsentiert sich das Terrornetzwerk nach außen hin immer professioneller und buhlt mit anderen "terroristischen Mitbewerbern" um die "Vorherrschaft". Denn in den vergangenen Jahren hat es dem IS-Experten Behnam T. Said einen regelrechten Positionierungskampf unter der Prämisse "wer ist die wahre und einzig einflussreiche Terrororganisation?" gegeben. Der Streit zwischen Al-Kaida/Al-Nusra-Front und IS zeigt sich in den sozialen Netzwerken und polarisiert täglich aufs Neue. Die Folge sind noch krassere Positionierungen.

Die Bandbreite der Internetaktivitäten und der beinharte Kampf um Zuspruch lassen sich etwa daran messen, welche Gelehrten der jeweiligen Terrororganisationen mehr Follower in sozialen Netzwerken haben. Said schreibt in seinem Buch "Der Islamische Staat" (Beck-Verlag, 2014), dass Al-Kaida und Al-Nusra-Ideologen hier eindeutig mehr Anhänger hatten, zumindest auf der Plattform Twitter. Ein Beispiel: Der bis Ende Juli 2014 wichtigste Scharia-Gelehrte von Jabhat al-Nusra, Abu Mariya al-Qahtani, verfügte über 60.000 Follower, ebenso wie der unabhängige Hani al-Sibai. Ein anderer wichtiger Unterstützer und Fürsprecher der Al-Nusra-Front, der saudische Islamgelehrte Abdullah al-Muhaisani, hat gar 309.000 Follower. Beliebte IS-Gelehrte konnten hingegen nur 20.000 bis 30.000 Anhänger um sich scharen. Daher hat der IS ab dem Sommer 2015 seine PR-Profis mobilisiert und die Order gegeben, dass die sozialen Medien noch viel mehr genutzt werden müssten, um den Einfluss zu steigern. Auch mit der Schließung einiger Accounts hat man keine Probleme. "Hier werden fünf Accounts geschlossen, dort eröffnen wir 100 andere", meinte ein IS-Stratege auf seiner Homepage.

Fünf Säulen

Hinter allen IS-Machenschaften steckt ein sehr gut organisierter Zentralapparat, der IS-Kennern zufolge fünf Säulen hat: Erstens sind alle Teilstrukturen so zu formen, dass (fast) jeder ersetzbar ist. Denn es geht um die Sache und nicht um einzelne Personen. Sie sind stets Mittel zum Zweck. Zweitens sollen auch diejenigen, die die Funktionalität einer neu eroberten Stadt kontrollieren, kontrolliert werden. Die betreffenden Personen in höheren Positionen werden immer wieder gescreent und müssen sich die Frage "Bin ich es wert, im IS eine Führungsposition innezuhaben?" gefallen lassen. Drittens soll in unorganisierten Strukturen etwa kleinen Dörfern oder Armeeteilen, die sehr unkoodiniert agieren, binnen kürzester Zeit, maximal aber binnen acht Wochen, Disziplin hineingebracht werden. Brutalität steht an der Tagesordnung, und das ist gut so, so der IS-Leitfaden. Wenn es der Sache dienlich ist, dann sind Enthauptungen, Kreuzigungen, Vergewaltigungen und Massenerschießungen im Sinne des Kalifats. Letztlich und das ist der wichtige Punkt gibt es eine goldene Regel: "Wer nicht spurt, wird beseitigt."

Wie sieht nun die Struktur hinter dem IS aus? Die Terrormiliz hat straffe Hierarchien und regelt jedes Detail. So wird das Territorium wie nach einer einheitlichen Verwaltungsstruktur diszipliniert organisiert: mit einem allmächtigen Oberbefehlshaber, der gleichzeitig Personal- und Regierungschef ist und als Kalif angesprochen werden will.

Der Apparat des IS

Der Kalif: Oberster Chef des IS ist Abu Bakr al-Baghdadi, der sich selbst als "Ibrahim" zum Kalifen aller Muslime ausrief. Er kämpfte früher im Irak gegen die US-Truppen und wurde von ihnen 2005 sogar festgenommen, aber bald wieder auf freien Fuß gesetzt. 2011 setzte das US-Außenministerium auf ihn ein Kopfgeld in Höhe von zehn Millionen Dollar aus.

Die Regierung: Die Exekutive bilden al-Baghdadi, seine engsten Berater und seine beiden Stellvertreter. In al-Baghdadis Kabinett finden sich Minister für Finanzen, Sicherheit und Organisation - und ein eigener Beauftragter für ausländische Kämpfer und den Transport von Selbstmordattentätern an ihre Tatorte. Al-Baghdadi traut fast keinem seiner engen Berater über den Weg und soll manche von ihnen auch gegeneinander ausspielen, um ihre Loyalität zu testen.

Personal und Kämpfer:Innerhalb der Kämpfer gibt es eine grundsätzliche Unterscheidung in aus dem europäischen Ausland lukrierte und jenen aus der Region. Hierbei gibt es starre Hierarchien und Mechanismen. Von der Rekrutierung bis zum Einsatz für diverse Operationen muss die Bewerberin oder der Bewerber ein Mehrstufensystem durchlaufen. Idealerweise hat er keinen Bezug zu seiner Familie, keine Perspektiven, kein Problem damit, für den IS in den Tod zu gehen, und ist mit einer ordentlichen Portion Abenteuerlust ausgestattet. Ein zusätzliches Plus sind Skrupellosigkeit und Kombinationsfähigkeit. Nach der Einstiegs- und Ausbildungsphase wird der Bewerber entsprechend seiner Qualifikation eingeteilt. Neben den militärischen Aufgaben werden auch viele der IS-Mitglieder für die Instandhaltung der Propagandamaschinerie, für die Aufrechterhaltung des Verwaltungsapparates und für die Personalausbildung eingesetzt.

Der Schura-Rat: Dieses einflussreiche Gremium achtet auf Einhaltung der Bestimmungen der Scharia. Es fungiert als eine Art Religionsbarometer und soll sicherstellen, dass die religiösen Regeln der selbst ernannten "Krieger Gottes" auf allen Ebenen eingehalten werden. Theoretisch könnte der Schura-Rat sogar den "Kalifen" absetzen. Aber alle Mitglieder wurden von al-Baghdadi selbst ernannt. Wichtig ist der Grundsatz, dass die Scharia für alle Entscheidungen des Alltags als Basis dienen muss. Einige Mitglieder des Schura-Rats sollen an den Anschlägen in New York und Washington am 11. September 2001 beteiligt gewesen sein.

Neben der Hauptstruktur der IS-Führung soll es noch eine Exekutivabteilung geben, die sich parallel um die Belange des täglichen Lebens im Kalifat kümmert. Innerhalb der Hierarchie gibt es immer die Pflicht, über die Aktivitäten zu berichten. Die Dschihadisten bezahlen Löhne, liefern Wasser, Strom und Gas, regeln den Verkehr, unterhalten Schulen, Universitäten, Moscheen, Banken und Bäckereien.

Es sind diese geordneten Strukturen, die den IS von den nur lose organisierten aufständischen Gruppen unterscheiden. Das System entbehrt jeder Demokratie und dient rein zur effizienten Umsetzung von Brutalität.