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Wer nimmt die Bowle weg?

Von Thomas Seifert

Leitartikel

Stagflation führt zwangsläufig zu Unzufriedenheit und Protest.


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"Die Federal Reserve (...) steckt in der Rolle der Aufsichtsperson, die die Schüssel mit der Bowle wegbringen lässt, bevor die Party so richtig beginnt." Dieses Zitat stammt aus einer Rede von US-Notenbankgouverneur William McChesney Martin Jr. im Jahr 1955. Doch was wollte der Notenbanker damit sagen? Die Fed soll als Erziehungsberechtigter im Wirtschaftsgeschehen mit akribisch kalibrierten Zinssätzen darauf achten, dass die Wirtschaft im Lot bleibt: Zinspolitik als Drahtseilakt.

Ultralockere Geldpolitik führt nach diesem Narrativ zu einem Überhitzen der Wirtschaft - was wiederum die Inflation befeuert. Eine aus dem Ruder gelaufene Teuerung endet aber rasch in einem Katzenjammer: Immobilien, Waren und Dienstleistungen werden unerschwinglich, Arbeitnehmer müssen höhere Löhne erstreiten, um zumindest einen Teil ihrer Kaufkraft zu verteidigen. Die Lohn-Preis-Spirale kommt in Schwung.

Drehen die Notenbanken aber zu energisch an der Zinsschraube, dann bekommen sie zwar die Inflation wieder unter Kontrolle, laufen aber Gefahr, die Wirtschaft abzuwürgen: Das Wirtschaftswachstum wird scharf abgebremst, die Arbeitslosigkeit explodiert - rien ne va plus.

Gleichzeitig sollte man die Rolle der Notenbanker nicht überschätzen: Freilich, die Hohepriester der Geldtempel sind Herrscher über die Zinssätze, aber letztlich sind Güter realer, tangibler und konkreter als Geld. Vor allem Energie.

Denn Energie steckt in allen Produkten menschlichen Handelns. In Lebensmitteln zum Beispiel: Kunstdünger wird aus Gas hergestellt, Mähdrescher werden mit Diesel betrieben, Mühlen benötigen Strom, Backöfen ebenso.

Wenn nun die Energiekosten wegen des russischen Angriffskrieges in der Ukraine explodieren, dann erhöht das die Produktionskosten auf breiter Front, das Wirtschaftswachstum sinkt, und Arbeitslosigkeit und Inflation steigen.

Stagnierendes Wachstum + Inflation = Stagflation.

Ein solches Stagflationsszenario führt fast zwangsläufig zu einem brisanten Mix aus Unzufriedenheit und Protest.

Darauf hofft Wladimir Putin, der alles daransetzen wird, dass im Westen eine neue Gelbwesten-Bewegung wie einst die "gilets jaunes" im Winter 2018/2019 in Frankreich Zulauf erhält.

Doch Putin unterschätzt die Flexibilität und Agilität des Westens: Die Energiewende wird nun noch rascher vorangetrieben, Alternativen zu russischen Energielieferungen werden mit Hochdruck gesucht. In zwei Jahren dürfte sich Europa von der Sucht nach russischem Öl und Gas befreit haben. Spätestens bis dahin sollten sich die Energiemärkte wieder beruhigen. Doch fürs Erste ist die Party vorbei.