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Wer schneller stirbt, lebt länger

Von Christian Ortner am Samstag

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Im Mediengeschäft überholt die Nachricht immer öfter die Wirklichkeit: Zeit für eine "Slow News"-Philosophie verlässlicher Korrektheit?


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Ginge es nach der medialen Lage von vor ein paar Wochen, wäre Muammar Gaddafi bekanntlich schon längst nicht mehr im Amt. Denn kaum hatte die Revolte in Libyen begonnen, war aus allen Kanälen zu vernehmen: "Gaddafi am Ende, Gaddafis Sturz steht unmittelbar bevor, Gaddafis letzte Stunden" und so weiter in dieser Game-over-Tonalität. Da hatten die Nachrichten ganz eindeutig die Wirklichkeit überholt: Denn der schräge Libyer hat die Meldungen von seinem politischen Ableben bekanntlich ganz schön lange überlebt.

Diesem Muster vorauseilender Erregung folgt die Berichterstattung des Boulevards, und gelegentlich sogar der sogenannten Qualitätsmedien, immer öfter: Die Nachrichten werden sozusagen verbreitet, bevor es überhaupt welche gibt. Kaum war in Japan die Tsunami-Welle über Fukushima geschwappt, hechelten vor allem die kleineren Formate einen Hyper-GAU herbei, als würden sich die Tepco-Reaktoren gerade durch den ganzen Planeten schmelzen und drohen, auf dem Wiener Karlsplatz als nuklearer Feuerball wieder aufzutauchen. Feinspitze des Medienkonsums konnten sich dann tagelang daran delektieren, wie die Berichterstattung wieder langsam und möglichst diskret so weit zurückrobben musste, um wieder halbwegs mit der Faktenlage in Einklang zu kommen.

Auch die EHEC-Viren wurden zu einem Zeitpunkt als Folge eines spanischen Gurkoshima beschrieben, als leider noch niemand verlässlich wissen konnte, woher der böse Keim tatsächlich stammte.

Es wäre freilich - gerade für Journalisten - irgendwie bigott, allzu bittere Krokodilstränen über diese Entwicklung zu vergießen. Unter den Bedingungen von World Wide Web, sozialen Netzwerken, Smartphones und permanenter Abrufbarkeit von Informationen steigt eben der Druck auf alle Medien enorm, zeitgerecht Informationen bereitzustellen. Im Geschäft gilt nicht "speed kills", sondern "wer zu spät kommt . . ." - dass dabei die Präzision Korrektheit der Information leidet, ist vermutlich unvermeidbarer Kollateralschaden. Letztlich will es der Konsument so, und der hat bekanntlich immer recht.

Und trotzdem überfällt den halbwegs kritischen Medienkonsumenten angesichts dieser hyperventilierenden Rolle-rückwärts-Berichterstattung gelegentlich die Sehnsucht nach einer bewusst herbeigeführten Verlangsamung der Informationsvermittlung; zumindest auf einigen wenigen ausgesuchten Kommunikationskanälen - der bewusste Verzicht auf Hyperschall-Berichterstattung zugunsten von Genauigkeit und Verlässlichkeit.

Gaddafi wäre da eben erst tot, wenn er tot ist, die Kernschmelze erst eine, wenn sie tatsächlich stattfindet, und der EHEC-Erreger erst einer, wenn er nachgewiesen ist: Nicht nur den Banken, auch den Medien täte eine derartige Rekapitalisierung des Vertrauens der Öffentlichkeit gar nicht so schlecht.

In der Gastronomie hat sich das Slow-Food-Konzept als Antithese zum unbekömmlichen und unverträglichen Fast Food höchst erfolgreich etabliert. Kann gut sein, dass auch dem Nachrichtengeschäft eine Dosis dieser Philosophie ganz zuträglich wäre.