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Wer soll eigentlich Asyl bekommen?

Von Christian Ortner

Gastkommentare
Christian Ortner.

Europas mogelt sich ein wenig um die zentrale Frage im Streit um Migration und Asyl herum.


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Selbst drei Jahre nach dem Beginn der Völkerwanderung aus dem Süden nach Europa ist das Thema "Migration" in allen Meinungsumfragen quer durch Europa jenes, das die Bürger am meisten bedrückt; und zwar mit Abstand. Dafür mag es mehrere Gründe gaben, rationale und auch weniger rationale.

Einen Grund, der bisher eher wenig diskutiert wird, aber durchaus mit ausschlaggebend für diese massive Stimmungslage sein dürfte, hat der deutsche Publizist Gerd Held dieser Tage auf den Punkt gebracht: "Personen, die über die Grenze ins Land drängen und bekunden, sie strebten ‚Asyl‘ an, erwerben allein durch diesen einseitigen Akt einen Rechtsanspruch auf Aufenthalt, Sozialleistungen und anwaltliche Vertretung - bis zur endgültigen gerichtlichen Klärung, die sich über Jahre hinziehen kann. Eine vorherige, unmittelbare Zurückweisung an der Grenze ist nicht zulässig. (. . .) Der Migrant nimmt gegenüber dem Staat und Staatsvolk seines Ziellandes einen einseitigen Übergriff vor, ohne nach dessen Einverständnis zu fragen und dies abzuwarten."

Der Schlüsselbegriff dabei ist "ohne Einverständnis": Es ist dieser Verlust an Souveränität in einer für den Bürger so existenziellen Frage, der bis heute so aufregt. Die Menschen spüren, dass es das zentrale Prinzip der "territorialen Integrität" des Staates nicht mehr wirklich gibt, und das macht sie unrund. Sie sehnen sich nach einem Staat, der wieder autonom und souverän entscheidet, wer ins Land darf - und vor allem, wer nicht. Man kann ihnen das schwerlich zum Vorwurf machen. Doch soll dieses Prinzip wieder in Rechtskraft gesetzt werden, kollidiert es massiv mit anderen Normen, die Europa bisher für selbstverständlich gehalten hat. Etwa dem Recht jedes Menschen auf diesem Planeten, egal woher, egal mit welcher Biografie, egal mit welchen Absichten, an der Grenze einer europäischen Nation Asyl zu beantragen. Laut UNO sind derzeit weltweit mindestens 60 Millionen Menschen auf der Flucht. Sie alle - und jedermann sonst - haben derzeit das Recht, an einer europäischen Grenze "Asyl" zu sagen und damit die Einreise zu erzwingen; vorerst jedenfalls. Es ist dies eine juristische Illusion, die bisher nur deshalb nicht ganz geplatzt ist, weil der Großteil dieser 60 Millionen nicht die Möglichkeit hat, nach Europa zu gelangen.

Früher oder später wird es freilich notwendig sein, sich von dieser europäischen politischen Lebenslüge zu verabschieden. Selbst Armin Thurnher, Chef des einst willkommenskulturell federführenden "Falter", schrieb diese Woche: "Europa kann nicht alle 60 Millionen Flüchtlinge aufnehmen." Ja, eh. Nur muss dann logischerweise in einem nächsten Schritt politisch festgelegt werden, wer trotz seiner Eigenschaft "Flüchtling" nicht einmal um Asyl ansuchen darf, wie es viele doch dürfen - also die schreckliche Quote - und wer auf welcher Rechtsgrundlage diese gravierenden Entscheidungen trifft. Und, besonders unangenehm: wie an der Grenze mit jenen zu verfahren ist, die auch laut Thurnher nicht kommen können, es aber trotzdem probieren.

Mit dem Asylrecht in seiner heutigen Form ist wohl nichts von all dem noch kompatibel, wie man es auch dreht und wendet. Auch wenn sich das kaum noch ein relevanter Politiker laut zu sagen traut.