Der deutsche Bundespräsident muss im Internet lesen, seine Frau habe als Prostituierte gearbeitet. Erstaunlich, dass da noch jemand Politiker wird.
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Man muss nicht wirklich hauptberuflicher Meinungsforscher sein, um zu spüren: Das Bedürfnis nach einer neuen politischen Partei ist so groß wie schon lange nicht mehr. Dass in Deutschland die doch etwas obskure Piratenpartei relativ konstant bei acht Prozent liegt (was etwa viermal so viele Stimmen wie die altehrwürdige FDP hieße), deutet an, welche Chance eine halbwegs vernünftige neue politische Gruppierung auch in Österreich hätte. Angesichts der überschaubaren Leistungen der Koalition und des ebenso überschaubar attraktiven Angebots der Opposition ist das kein großes Wunder: Die etablierten politischen Kräfte betteln geradezu um Konkurrenz.
Dass es diese Konkurrenz noch nicht gibt, liegt unter anderem an einem eigentümlichen Problem: Während es an mehr oder weniger konkreten Projekten für neue Parteien keinen Mangel gibt, mangelt es diesen Projekten eklatant an auch nur halbwegs attraktiven Spitzenkandidaten (so wie sich auch die etablierten Parteien erkennbar schwer tun, attraktive Kandidaten zu rekrutieren). In der Regel gilt nämlich: Wer es nicht nötig hat, mithilfe der Politik Karriere zu machen, tut sich das auch nicht an - und umgekehrt. Das führt zwingend zu einer negativen Personalauslese in politischen Funktionen, die Folgen sind tagtäglich auf der politischen Bühne zu besichtigen.
Dass politische Betätigung für qualifizierte, intelligente und leistungsfähige Menschen zunehmend unattraktiv wird, hat verschiedene Gründe - einen wesentlichen kann man gerade bei den deutschen Nachbarn besichtigen. Wer etwas genauer studiert, wie mit Bundespräsident Christian Wulff umgegangen wird, versteht, warum so viele potenzielle Polittalente ablehnen. Wulff hat zwar zweifellos mehrere schwere Fehler begangen, die ihn für das Amt disqualifizieren, und seinen Rücktritt zu fordern ist auch durchaus angemessen. Absolut nicht angemessen ist jedoch, wie nun mit dem Ehepaar Wulff in der virtuellen Öffentlichkeit verfahren wird. Da wird etwa ganz dezidiert behauptet, Bettina Wulff habe früher in einem Bordell gearbeitet; maliziöse Details und Fotos inbegriffen.
Das Risiko, dass Privatestes und frei erfundenes Privatestes öffentlich wird, geht mittlerweile jeder ein, der in der Öffentlichkeit agiert - und muss damit rechnen, aufs Übelste beschimpft, verleumdet und runtergemacht zu werden, ohne sich wehren zu können. Ein Blick in die größeren Internet-Foren zeigt etliche Unerträglichkeiten: Jeder mittelalterliche Pranger ist im Vergleich dazu eine Kuranstalt. Unter diesen Bedingungen verwundert eigentlich nicht, dass es so wenig attraktiven politischen Nachwuchs gibt - da wundert eher, dass sich das überhaupt noch jemand antut.
Natürlich kann man dem ein kühles "If you can’t stand the heat, get out of the kitchen" entgegenhalten. Dann werden freilich gerade die der Küche fernbleiben, die man gerne als Köche hätte. Ist es der Gipfel der Weisheit, zuzulassen, dass unter dem Schutz der Anonymität im Netz jeder kübelweise Unrat über jeden ausschütten kann? Und welche Leute nehmen für eine politische Funktion diese Tortur auf sich? Nicht unbedingt die besten Köche.
ortner@wienerzeitung.at