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Es ist kein Naturgesetz, dass die Flüchtlingsfrage derzeit alle Wahlen entscheidet. In Frankreich gelang es Emmanuel Macron im Frühjahr 2017, die Präsidentschaftswahlen in ein Referendum über seine Person und einen pro-europäischen Erneuerungskurs umzudeuten. Auch die jüngsten Landtagswahlen in Österreich waren eher Gradmesser über die Person und den Stil der jeweiligen Landeshauptleute als Richtungswahlen in Sachen Integration und Migration.
Von dieser Handvoll Ausnahmen jedoch abgesehen bleibt das Thema ein Faktor für Wählervoten quer über den Kontinent. In Italien kamen noch Wut und Enttäuschung über ein etabliertes Parteiensystem hinzu, das fast alles versprochen und fast nichts gehalten hat. Die hochbrisante Mischung aus Systemfrust und Migration hat - nach der Implosion der Nachkriegsära Anfang der 1990er - nun ein weiteres Mal das Parteiensystem auf den Kopf gestellt. Man kann dies als Beleg für die ewige Gefahr der Verführbarkeit biederer Bürger durch dämonische Kräfte sehen. Genauso legitim ist die Vermutung, dass es sich um eine robuste Reaktion auf die fortwährende Nichtbeachtung der Repräsentierten durch die Repräsentanten handelt.
Wobei es natürlich nicht so einfach ist. Themen und Stimmungen eines Wahlkampfs fallen nicht vom Himmel, sondern werden befeuert und gesteuert, wie es in der Macht und den Interessen der Parteien liegt. In seltenen Fällen gelingt es, eine Stimmung zu erzeugen, die mit den Tatsachen des Alltags nichts mehr zu tun hat. Aber das bleibt die Ausnahme. In der Regel können Parteien nur auf Stimmungen surfen, die bereits vorhanden sind. Ein Freibrief, mit den Schwächen und Schwächsten zu spielen, ist das trotzdem nicht. Der Kern der Politik besteht darin, das Zusammenleben zu verbessern, nicht zu verschlechtern.
Wer trägt nun die "Schuld" für das Ergebnis? Die Wut der Italiener, ihre Enttäuschung über das "System", ist genau so real wie ihr Opportunismus und ihre sture Verweigerung notwendiger, aber schmerzhafter Reformen und das Versagen der EU bei der Lösung der Migrationsfrage. "Schuld" in diesem Sinne ist keine politische Kategorie.
Trotzdem: Die Folgen der italienischen Revolution lassen sich heute noch nicht absehen. Zwar sind Extremszenarien wie ein Euro- oder gar EU-Austritt weiter unwahrscheinlich, aber dass in einem Gründungsstaat der EU nun EU-Kritiker die mit Abstand stärksten Parteien stellen, muss die EU verändern. Dass Deutschland und Frankreich sich auf eine gemeinsame Linie einigen, wird nicht genügen. Europa wird noch komplizierter, als es ohnehin schon ist. Und nicht einmal baldige Neuwahlen in Italien werden daran etwas ändern.